Eine Rezension von Manfred Lemaire


Liebeserklärung an London

P. D. James: Wer sein Haus auf Sünden baut

Roman. Aus dem Englischen von Christa E. Seibicke.
Droemersche Verlagsanstalt, München 1999, 603 S.

 

„Er konnte nicht erkennen, wie die Brandungswellen sich an der Küste brachen, aber er hörte das Meer, ein leises, ewiges Seufzen wie von allumfassender Trauer. Und dann riß die Wolkendecke abermals, und der Mond, der fast voll war, ergoß sein kaltes Licht über das Sumpfland und die ferne, zusammengebrochene Gestalt weit draußen.“

Mit diesen Worten schildert P. D. James gegen Ende des Romans das Ende eines alten Mannes, Held der französischen Résistance, der vor einem halben Jahrhundert in Frankreich den Tod von drei Menschen in Kauf genommen hat, um höherer Interessen willen, wie er sagte, und nun in England die schwere Sünde mit dem Tod seiner beiden Kinder bezahlen mußte. Sie sind mit Vorbedacht ermordet worden. Die beiden zitierten Sätze zeugen von einer literarischen Qualität, die dem ganzen Buch eigen ist, wie immer man zu seinem literarischen Genre stehen mag. Der Roman präsentiert sich in eindringlicher und aufdringlicher Sprache, ohne vordergründige Effekte, mit einer straff geführten Handlung, die freilich den Leser hier und da elegant in die Irre zu führen weiß, wie es sich für einen guten Krimi gehört.

Dennoch tritt dieses Markenzeichen aller vierzehn Werke der Grande Dame hier etwas weniger in Erscheinung als etwa in ihrem letzten Buch, im selben Jahr bei Droemer Knaur erschienen, Was gut und böse ist (LeseZeichen 9/1999: „ein absolutes Muß für jeden Liebhaber der gepflegten Kriminalliteratur“). Gewiß, die Zahl der Toten erreicht diesmal schon fast Shakespearesche Größenordnungen, doch die Leichen und die Art ihrer Herstellung beherrschen diesen Roman nicht, wie P. D. James überhaupt stets dezent mit dem Akt des Tötens umgeht. Das Buch handelt zwar von Crime, aber eigentlich zu lesen ist eine verhaltene Liebeserklärung an London, die riesige und dennoch überschaubare Stadt an der Themse, an dem Fluß mit Ebbe und Flut, „Gezeitengott, den T. S. Eliot angerufen hatte als den mächtigen braunen Gott“, wie es bei James heißt.

Zu besichtigen ist ein Bild der englischen Gesellschaft von heute, kaum ihres modernen Teils, der computergestützten Geschäftswelt und der Docklands, sondern mehr ein Gemälde jenes traditionsgeprägten Londons, in dem das altehrwürdige Innocent House steht, Sitz des Verlages Peverell Press. Wegen seines Defizits an Rationalisierung und der hohen Kosten für das repräsentative Haus ist er in seiner Existenz bedroht. Eine langjährige Mitarbeiterin, kaltschnäuzig gekündigt, hat sich soeben umgebracht. Eine Atmosphäre, in der Morde geschehen können, baut sich auf.

Beide, der Verlag und sein Haus, sind erfunden. Kommerzielle Situation und soziale Bedrohung sind überzeugend nachempfunden. Die Stadt ringsum, original bis zur einzelnen U-Bahn-Station, ist eine existente und exzellente Kulisse für den Roman. Besonders überzeugend dargestellt ist das angestaubte Verlagsmilieu. Phyllis Dorothy James, 1991 von der Queen mit einem abenteuerlich anmutenden Adelstitel geehrt, Baroness James of Holland Park also kennt sich in dem Milieu seit 1962 aus, hat übrigens zuvor in der Kriminalabteilung des Innenmini steriums einiges über das Auftreten und Bekämpfen von Verbrechen erfahren. Handwerkliche Fehler sind von ihr nicht zu erwarten.

Allen ihren Büchern, auch dem vorliegenden Band, Neuausgabe des bereits 1995 bei Droemer Knaur erschienenen Titel, ist eine nostalgische Note zu eigen: Das gute alte England lebt zwischen den Zeilen und in so manchem Detail. Das hat oft mit der eigentlichen Handlung wenig zu tun, erscheint wie eine Antiquität in einer großen Wohnung. Da ist zum Beispiel der Cadaver Club, in dessen Räumen immerhin einundzwanzig Seiten des Buches angesiedelt sind. Er „war - und ist - ein reiner Herrenclub, und wer Mitglied werden möchte, muß in erster Linie ein berufliches Interesse für Mord nachweisen können“. P. D. James fügt hinzu: „Wenn dies ein Roman und ich sein Autor wäre, würde die Geschichte hier ihren Anfang nehmen.“ Und das tut sie denn auch. Der Cadaver Club als Introduktion einer gepflegten und verzwickten Gruselgeschichte - englischer geht’s nicht.

Ebenso deutlich wird die Zuneigung der Autorin zu den kleinen makabren Zutaten, wenn sie uns Hissing Sid präsentiert. Das ist eine Schlange aus festem buntem Stoff, als Puffer um Türgriffe zu wickeln oder gegen Zugluft unter die Tür zu stopfen. Sie windet sich durch das ganze Buch, und ihr Kopf wurde gar dem ermordeten Geschäftsführer von Peverell Press gewaltsam in den Mund appliziert. Aber was hat wer der Leiche zuvor aus dem Mund entfernt?

Gute Bekannte sind wieder mit von der Partie, an ihrer Spitze der berühmte Commander Adam Dalgliesh vom Londoner Sonderdezernat für besonders schwierige Fälle. Er geruht hin und wieder einen schlimmen Mord aufzuklären, damit er nicht aus der Übung kommt. Dies wäre allerdings bei einem so brillanten Geist kaum zu befürchten. Hier nun nimmt er sich mit seiner ebenfalls bereits eingeführten Inspektorin Kate Miskin einer ganzen Mordserie an, die den Verlag und Innocent House in den Grundfesten erschüttert, ja ganz London aufhorchen läßt. Neu in der kleinen Mannschaft des Commanders ist Inspektor Daniel Aaron, der aus einer traditionsbewußten jüdischen Familie kommt, selbst jedoch kaum religiös ist.

Inspektor Aaron fungiert als eine Art ethnische Zugabe, typisch für die Art, wie die Autorin die handelnden Personen diversifiziert. Gleiches gilt für die Aushilfssekretärin Mandy, die Motorrad fährt und ein jugendliches Gegengewicht zu den vorherrschenden konservativen Figuren des Romans bildet. Mit allen diesen Nebenrollen legt P. D. James Ehre ein. Sie beherrscht die Kunst, scheinbaren Statisten bemerkenswerte Nebenrollen zu geben, Randfiguren schon mit wenigen Sätzen lebendig werden zu lassen und so die soziale Vielfalt der englischen Gesellschaft sichtbar zu machen, was zweifellos in der Absicht der Autorin liegt. Besonders sachkundig und nicht ohne Mitgefühl beschreibt sie ein mehr zufälliges Mordopfer, die abgetakelte Krimi-Autorin Esmé Carling. Allerdings sind hier autobiographische Züge auszuschließen - Baroness James ist bis in ihr 80. Lebensjahr sehr erfolgreich geblieben. Eine erstaunliche Frau, die den englischen Kriminalroman alter Schule seit drei Jahrzehnten mit neuem Glanz versieht.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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