Eine Rezension von Monika Melchert


Weg ohne Umkehr

Wolfgang Held: Uns hat Gott vergessen
Tagebuch eines langen Abschieds.

quartus-Verlag, Jena 2000, 176 S.

 

„Das Boot treibt ab, langsam immer weiter fort vom Ufer. Ich bin allein, ganz allein.“ Die Alzheimer-Krankheit. Ein für die meisten Menschen unheimliches Phänomen, weil so schwer zu fassen. Nur die Symptome sind allen erkennbar. Eine Krankheit, die immer häufiger auftritt, doch im öffentlichen Gespräch noch eine geringe Rolle spielt, erst recht in der Gegenwartsliteratur. Der Umgang mit ihr eine heikle, alle Kräfte aufbrauchende Herausforderung. Wolfgang Held nimmt sich, aus eigener Erfahrung mit der Erkrankung eines ihm nahestehenden Menschen, auf sensible und dabei sehr offene Weise des Themas an. Er wählt dafür die intime Form des Tagebuchs, und zwar in abwechselnden Äußerungen von Monika, der Kranken, und von Markus, dem Pflegenden. Zwei Menschen, die ganz aufeinander eingestellt sind, einer die Ergänzung des anderen. Anfangs ist es wie die Wechselrede miteinander tief vertrauter Partner, ein Ehepaar, das über vierzig Jahre in Liebe zusammenlebt, das ein gutes Leben miteinander hatte, eine Tochter, Enkelin, Schwiegersohn, zahlreiche Freunde. Dahinein bricht plötzlich das Unheildrohende, das Unvorstellbare. Über vier Jahre schildert der Autor den Prozeß der Auflösung der Persönlichkeit, der die Kranke unaufhaltsam erfaßt, und widmet das Buch „den Grauen Schwestern vom Orden der Heiligen Elisabeth (...), die liebevoll und aufopfernd den langen Weg eines Alzheimer-Kranken in die Dunkelheit begleiten.“

Immer weiter breitet sich die Krankheit im Alltag des betroffenen Menschen aus. Plötzlich erkennt sie nicht mehr das lange Vertraute, das eigene Zuhause, befreundete Menschen. Alles wird ihr fremd. Dinge sinken ins Vergessen ab, die man doch immer gewußt hat. Die Orientierung in Räumen ebenso wie in Gesichtern geht verloren. Der eigene Name ist nicht mehr erinnerlich. Alles entschwindet. Trotzdem hält sie am Leben fest. Glaubt das Paar anfangs noch, das werde sich wieder bessern, steht bald schon fest, daß es kein Zurück mehr gibt. Es ist ein „Weg ohne Umkehr“. Nur durch liebevolle, geduldige Zuwendung und viel, viel Zeit kann der Partner der Kranken noch Hilfe geben und Geborgenheit vermitteln. Seine eigenen beruflichen Verpflichtungen ist er gezwungen aufzugeben, stets muß er um die Kranke sein. Ihre Angst, die furchtbare Angst, die aus dem Inneren aufsteigt und durch keine Vernunftsgründe einzudämmen ist, macht ihr ein auch noch so kurzes Alleinsein zur Qual. Panik greift Raum. Nur wenn die Bezugsperson bei ihr ist, kann die Frau ihre Angst, alleingelassen, ja verlassen zu sein, unterdrücken. Das Weiß hinter ihrer Stirn nimmt beständig zu. Es ist ein sich fortsetzender Verlust alles dessen, was bisher das Leben bedeutet und reich gemacht hat. Sie muß die Erfahrung mit einer Krankheit machen, „die viel, viel mehr in der Seele als im Körper schmerzt“.

Wolfgang Held stellt sich in diesem Buch der diffizilen Aufgabe, die Gedankenketten der Kranken, die zunehmende Verwirrung und Dunkelheit, später zuweilen nur noch Gedankenfetzen, sprachlich zu erfassen. Mir scheint, ihm ist das Schwierige gelungen, sehr behutsam, dabei durchaus nicht nur mit leisen Tönen. Denn da sind auch Affektausbrüche, die Eruption von Emotionen, die sehr schmerzlich zu lesen sind. Die Kranke wehrt sich natürlich gegen das ihr Auferlegte. Zuerst richtet sich ihre Empörung gegen sich selbst, dann auch gegen andere Personen und schließlich gegen Gott. Die beiden Tagebuchschreiber, die sich immer als Atheisten sahen, wenden sich in ihrer Not plötzlich in Gedanken an Gott. Der Satz der Kranken zu ihrem Mann, „ich glaube, uns hat Gott vergessen“, ist in diesem Kontext wohl nachvollziehbar. Aber auch bei dem Mann, der lange Zeit mit großer Stärke die Pflege seiner Frau allein auf sich nimmt, treten Gedanken an einen gemeinsamen Freitod auf. Doch werden sie immer wieder abgewehrt. Die Liebe des Paares hält stand über die Jahre. Eine wachsende Kraft entsteht gerade aus der immer bedrückender werdenden Lage. Schließlich, im letzten Jahr des Krankheitsprozesses, muß sich der Mann entschließen, seine Frau in einem Heim von ausgebildetem Personal pflegen zu lassen. Doch täglich begleitet er ihren Alltag für mehrere Stunden. Nur von ihm nimmt sie noch Nahrung entgegen, nur in seiner Gegenwart kann sie einigermaßen zur Ruhe kommen. Dies sind die kompliziertesten Momente einer langen Beziehung. Auf dem Heimweg vom Totenbett seiner Frau an einem schönen Junitag schließlich ist er einsam bis ins Innerste und getröstet zugleich.

Wolfgang Held hat ein Buch geschrieben, das aufwühlt und das Einblick gestattet in den leidvollen Alltag von Alzheimer-Kranken. Es will und kann keine Fachliteratur über den Umgang damit sein. Wohl aber kann es aufmerksam machen auf ein schwieriges Problem, mit dem viele Menschen konfrontiert sind, es kann Sensibilität und Verständnis dafür steigern. Eine wichtige Funktion.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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