Eine Rezension von Licita Geppert


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Zwei Drittel Gott und ein Drittel Mensch

 

Stephan Grundy: Gilgamesch    Herr des Zweistromlandes.
Roman. Aus dem Amerikanischen von Verena C. Harksen.

Wolfgang Krüger Verlag, Frankfurt/M. 1999, 669 S.

 

 

2700 Jahre v. Chr. lebte im Zweistromland ein legendärer Herrscher: Gilgamesch. Noch zweitausend Jahre nach seinem Tod wurde das Hohelied von seinen Taten gesungen und als Heldenepos niedergeschrieben. Zwölf Tafeln umfaßt der Text, der seinerseits auf ein bereits damals etwa tausend Jahre altes altbabylonisches Epos zurückgeht. Einen derart alten Text für die heutigen Leser aufzubereiten ist eine schöne, aber auch schwierige Aufgabe. Historische Genauigkeit, das heißt vor allem Nähe zur Überlieferung, wird dann problematisch, wenn schon die Überlieferung Widersprüche enthält. Hier war dies der Fall bei der zwölften Tafel. Grundy löste dieses Problem durch das Einfügen von Visionen, die den Inhalt dieser Tafel dokumentieren. Mit viel Aufwand und großer Akribie hat Stephan Grundy gemeinsam mit seiner Frau Melodi Lammond Grundy das Gilgameschepos in seinen verschiedenen Fassungen recherchiert und daraus eine eigene Prosaversion entwickelt, die einem das Lesen und das Verständnis dieser fernen Zeit leichtmacht.

Vieles bleibt unter dem dunklen Mantel der Historie verborgen, dennoch mutet diese seltsame Dreiecksgeschichte sehr modern an, die sich zwischen Gilgamesch, dem Herrscher und obersten Kriegsherrn der Stadt Erech (Uruk), seinem Geliebten, dem Löwenmann Enkidu, und der Schamhatu, Hohepriesterin der Göttin Innana und damit religiöse Gattin von Gilgamesch, entwickelt. Der Machtantritt des fünfzehnjährigen Gilgamesch, zwei Drittel Gott und ein Drittel Mensch, als neuer Ensi der Stadt Erech, d. h. Herrscher, und als Lugal, d. h. oberster Kriegsherr, stellt ein Ereignis dar, das die überlieferten Traditionen der weltlichen und religiösen Herrschaft auf den Kopf zu stellen scheint, weigert sich Gilgamesch doch, die rituelle Hochzeit mit der Schamhatu, seiner einstigen verhaßten Gefährtin aus Kindertagen und nunmehrigen Hohepriesterin, zu vollziehen. Damit findet die Verbindung zwischen der Göttin und den Menschen nicht statt, was aber damals unabdingbar war für die Existenz einer prosperierenden Stadt. Eine Trennung von Religion und weltlichem Leben hatte noch nicht stattgefunden. Beides war so eng und so selbstverständlich miteinander verwoben, daß niemand auch nur auf die Idee kam, die Verbindung in Frage zu stellen. Daraus folgte andererseits aber auch, daß ein Ausweg für die Heilige Hochzeit gefunden werden mußte, die sich nun in der Weise vollzog, daß der alte En, der uralte Hohepriester der vergangenen Generation, sein Amt bis zu Gilgameschs Bereitschaft weiter ausübte.

Die Schamhatu ihrerseits ist das weiblich-überlegene Gegenstück zum jungen, hochfahrenden, aber in jeder Hinsicht einzigartigen Gilgamesch. Doch auch sie kann ihn nicht zähmen, geschweige denn in ihr Bett locken. Daran sind nicht nur die persönlichen Abneigungen schuld, sondern auch eine alte Todesprophezeiung. Da in den alten Texten die Schamhatu mal als Hure, mal als Hohepriesterin dargestellt wird, hat der Autor hier eine Art Synthese geschaffen, die aus der hohen Würdenträgerin eine Art oberste Hure werden läßt. Leider ist die Rezensentin wenig bewandert in den originalen Texten und den gesicherten historischen Gegebenheiten, jedoch erscheint die stark sexuell motivierte Version etwas zu modernistisch. Es ist, als hätte der Autor das Epos zumindest in der ersten Hälfte als Vorwand für allerlei sexuelle Phantasien über heterosexuelle und gleichgeschlechtliche Liebe, Gruppensex, käufliche Liebe bis hin zur Sodomie benutzt. Stellenweise war es einfach zu dick aufgetragen, zuviel, schlichtweg überflüssig. Die eigentliche Handlung allerdings bleibt davon unberührt, ist spannend gestaltet.

Die Anrufung der Götter durch die alte Schamhatu, die Ziehmutter Gilgameschs und nunmehrige Rimsat-Ninsun, den En und die junge Schamhatu bewegt die Götter, zu Gilgamesch ein Gegenstück an Mut, Kraft und Geist zu schaffen, mit dem er ringen würde, das er aber auch mit ganzer Kraft lieben würde. So schufen sie Enkidu, den wilden Löwenmann, der ein leeres Gefäß für den Willen und den Geist der Götter war, bis ihn die Schamhatu in der Wildnis die „Me“, die zivilisatorischen Gaben Innanas lehrte. Seit dem Moment der Ankunft Enkidus in Erech sind Gilgamesch und Enkidu ein unzertrennliches Paar. Gemeinsam gehen sie auf die Jagd, gemeinsam vertreiben sie als Anführer ihres Heeres Agga von Kisch, dem Gilgamesch die Tributzahlungen verweigerte, und gemeinsam ziehen sie aus, um den schrecklichen Huwawa zu besiegen, der den heiligen Zedernwald vor den Menschen verborgen hält. Sie sind eins und teilen nicht nur Tisch und Bett und ihre Frauen, sondern jede Freud und jedes Leid. Enkidu ist die beseelte Seite Gilgameschs, der mit den Instinkten eines Löwen begabte, dennoch oder gerade deswegen ohne Falsch und Hinterlist Lebende und Denkende, wo Gilgamesch eitel, ruhm- und machtbesessen ist, aber auch ein selbstbewußter Herrscher und kampferprobter Feldherr. Sie kennen und lieben die Stärken wie die Schwächen ihres Widerparts und erleben, wie sie vereint unbesiegbar sind. Gleichzeitig jedoch, und je mehr sie sich voneinander entfernen, begreifen Gilgamesch und die Schamhatu, daß sie durch Bande miteinander verbunden sind, die den Haß und die Demütigung überwinden. Es wird noch längere Zeit dauern, bis sie sich über ihre unter einem Trümmerberg alter Anfeindungen verschütteten wahren Gefühle für einander klar werden.

Diese beiden Handlungsstränge laufen als eine Art Selbstfindungsprozesse nebeneinander her. Auch Enkidu und die Schamhatu hüten ihre ganz eigene Art der Beziehung, so daß letztendlich ihrer aller Leben miteinander verwoben sind. Seine Pflichten gegenüber den Göttern und der Schamhatu vermag Gilgamesch jedoch erst nach dem Tode Enkidus und einem sich anschließenden Reifeprozeß erfüllen. Der fürchterliche, quälende Todeskampf Enkidus läßt Gilgamesch in Trauer versinken, einer Trauer, die so tief ist wie das Meer und so unermeßlich wie dessen Weite. Er verläßt seine Stadt und zieht sich in die von Enkidu so geliebte Natur zurück, wo ihn Visionen der Göttin ereilen, die ihn schrittweise wieder ins Leben zurückführen. Die Verzweiflung, die ihn in eine Sinnkrise stürzte, wird schließlich überwunden durch neue, ungeahnte Einsichten in den Lauf der Welt und seine Stellung und Aufgabe darin.

Grundy ist mit dem Gilgameschepos eine faszinierende Mischung aus Überlieferung und modernem Roman gelungen. Sein Erzählvermögen ist der Gewalt des Stoffes durchaus angemessen, seine Sprache fügt sich in Zeit und stofflichen Rahmen in einer Weise ein, die jede Distanz vergessen läßt. Der sumerische König Gilgamesch entsteht so vor dem geistigen Auge des Lesers zu einer lebendigen Gestalt, auf die sich beim Lesen des Buches dieselben Emotionen richten wie es im wirklichen Leben auch der Fall sein könnte: Unverständnis und Ablehnung, wo er selbstgerecht und größenwahnsinnig erscheint, Freude, wo er selbst Freude verschenkt, Anteilnahme an seinen Leiden und Erleichterung bei seiner Errettung. So soll es sein bei einem guten Roman. Daß Grundy überdies auch die mystische Dimension des Heldengesanges nicht zur Fantasy-Schnulze verkommen läßt, sondern neben der Verwendung von Originaltexten bei Gebeten und Anrufungen auch tiefes Empfinden für religiöse Zusammenhänge offenbart, gibt dem Buch zusätzlich eine ganz eigene Note.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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