Eine Rezension von Heinrich Buchholzer


Die Familie zuerst - um jeden Preis

John Gilstrap: Dreht euch nicht um

Roman. Aus dem Amerikanischen von Sigrid Langhaeuser
Droemersche Verlagsanstalt, München 1999, 463 S.

 

Die Familie besteht aus Jake Donovan, seiner Frau Carolyn und dem 13jährigen Sohn Travis. Sie sind Bürger der Vereinigten Staaten von (Nord-)Amerika. Der Autor des Buches hat es so eingerichtet, daß sie vor den lebensbedrohenden Nachstellungen, denen sie mehr als ein Dutzend Jahre ausgesetzt sein werden, nicht in die benachbarten Vereinigten Staaten fliehen wollten, in die Estados Unidos de Mexiko, wo sie sich wohl leichter hätten verstecken können. Aber man akzeptiert auch, daß diese Leute, wenn sie sich schon auf unabsehbar lange Zeit verbergen müssen, wenigstens in ihrer Heimat bleiben möchten, auf dem riesigen, vielgestaltigen, Anonymität vielleicht doch möglich machenden Territorium der USA.

Aber sie bleiben nicht namenlos-falschnamig, sondern werden entdeckt. Werden gejagt wegen eines vielfachen blutigen Verbrechens und wegen einer Umweltgefährdung, der von Tschernobyl gleichzusetzen - wegen zweier schwerster Delikte, die sie nicht begangen haben. Die Eltern müssen fliehen und das zunächst ahnungslose Kind mitnehmen, beschützen, schließlich mit der Wahrheit vertraut machen, die niemand glauben würde, sofern sie nicht bewiesen werden könnte, und ebendies ist so gut wie unmöglich. Als ihnen die Jäger schließlich immer näher kommen, gehen die Eltern zum Gegenangriff über, der fast aussichtslos ist, wie in die Enge getriebene Tiere, geführt vom Alpha-Tier, Vater Jake. Und das Unwahrscheinliche gelingt. Sie kommen mit sehr knapper Not lebend davon, der Junge ist überkontaminiert, kommen frei, werden nicht mehr gejagt. Die Jagd - diesen Titel könnte das Buch haben, weil es genau davon handelt.

Der Junge, Rekonvaleszent, hoffend, aber noch ungläubig, noch in einem Alptraum gefangen, fragt seine Eltern: „Ist es vorbei?“ Sein Vater antwortet ihm: „Ja, Trav, es ist endlich vorbei. Wir können nach Hause gehen.“ Der Junge runzelt die Stirn und fragt: „Haben wir denn ein Zuhause?“ Statt des Vaters antwortet der Autor: „Ja, sie hatten ein Zuhause. Es war überall da, wo sie zusammensein konnten.“ Und der Autor erklärt noch einmal, ehe das Buch endet, mit dem Schlüsselsatz dieses Romans das Motiv des Überlebenskampfes: „Die Familie zuerst, um jeden Preis.“ Auch dies hätte ein Titel sein können.

Dieser spannende, gut gebaute Roman mit einer fiktiven Handlung, die aber nicht eben weit hergeholt ist, geht von der Explosion eines eingemotteten Chemiewaffendepots der US-Army aus. Der große Knall soll den illegalen Verkauf solcher Waffen in nahöstliche Drittländer ebenso vertuschen wie einen vor der Explosion begangenen Massenmord. Die Eltern Donovan werden für all dies zu Sündenböcken gemacht. In Wahrheit steckt hinter den Verbrechen ein hoher FBI-Beamter, Anwärter auf den Chefposten dieser fast omnipotenten Bundesbehörde.

Daraus spinnt der Autor den einen roten Faden des Romans: Kampf zwischen Gut und Böse. Der gute FBI- und Polizeiapparat jagt das scheinbar böse Ehepaar Donovan, und der scheinbar gute FBI-Chef wird zum Schluß von seinen eigenen Leuten zur Strecke gebracht, denen die zwei Donovans die Augen öffnen konnten. Eine geschickt konstruierte Über-Kreuz-Geschichte, die letztlich politisch korrekt bleibt, weil der eine einzige FBI-Bösewicht atypisch erscheint. Die bisher Bösen werden rehabilitiert. Die Gerechtigkeit siegt, wie es sich in Gottes eigenem Land gehört.

Der andere rote Faden wird zum Lob der Familie gestrickt. Auch dies ist political correctness. Die Familie mit Kind gehört seit zwei Jahrhunderten zu den höchsten Gütern der USA. Eigentlich müßte sie, um dem gängigen Bild zu entsprechen, mindestens zwei Kinder haben, aber damit fühlte sich der Autor für die konzipierte atemberaubende Flucht wohl überfordert. Er ist übrigens Umweltexperte, verheiratet, ein Sohn, also in jeder Hinsicht sachkundig.

Die überragende Bedeutung der Familie gibt er zu erkennen, indem er seinen Heldenvater zum Sohn sagen läßt: „Es gibt nur einen einzigen echten Grund zu töten ... Und das ist, um deine Familie zu verteidigen.“ (Den Schutz der Vereinigten Staaten ordnet Gilstrap nicht so hoch ein - politisch unkorrekt!) Dem Sohn aber ist die lebensbedrohliche Fluchtsituation der drei Leute noch nicht voll bewußt, und vor allem fürchtet er, nach einem Feuergefecht mit den Verfolgern allein dazustehen. So sagt er zur Mutter, den Vater anklagend: „Er hat gesagt, daß er töten würde, um seine Familie zu beschützen. Großartig ist das! Und dann werden sie euch töten! Und ich werde ...“ Seine Stimme versagt, weil er an die Konsequenzen denkt. Ein tiefgehender Konflikt, den der Autor schlüssig darstellt.

Dieses Buch zeichnet sich durch realistische Darstellung und Schlüssigkeit bis in die Details aus. Es hat einen hohen Unterhaltungswert und bringt darüber hinaus dem deutschen Leser eine ganze Menge US-amerikanische Mentalität nahe. Der Autor nimmt zwar zum aktuellen Streit um die Millionen Handfeuerwaffen in Privatbesitz nicht direkt Stellung. Er argumentiert jedoch indirekt: Wer seine Familie gegen die seit vielen Jahrzehnten existente, zunehmende, furchterregende Kriminalität verteidigen will, und wer will das wohl nicht, muß bewaffnet sein. Wer seine Familie gegen die kriminelle Entartung eines Vertreters der Obrigkeit verteidigen will, und auch vor dieser Notwendigkeit könnte er, wie die Story zeigt, irgendwann stehen, muß bewaffnet sein.

Ja, mehr noch: Wer zur Verteidigung seiner Familie jemanden tötet oder ein Tötungsverbrechen deckt, sollte ohne gerichtliche Untersuchung des Falles straffrei ausgehen, insbesondere dann, wenn der Getötete ein Schwerverbrecher war. Diesen Gedanken legt der Autor nämlich nahe, weil er den Helden Jake amnestieren läßt, obwohl dieser seinen umgekommenen ärgsten Verfolger eingebuddelt hat, ohne den Behörden etwas davon zu sagen. Merke: Ein schlechtes Gewissen wegen eines Verbrechers, mit dem heimlich kurzer Prozeß gemacht wurde, ist besser als ein langer Strafprozeß, aus dem bekanntlich auch ein total Unschuldiger beschädigt hervorgehen kann. Das Buch bietet also nicht nur Lese-, sondern auch Diskussionsstoff zu einigen Grundproblemen, die zumindest in den USA direkt oder unterschwellig auf der Tagesordnung stehen.

John Gilstrap, der bereits einen Debütroman vorgelegt hat (Nathans Flucht, als Knaurs Taschenbuch erschienen), kann sich unter den Verfassern zeitgenössischer Politkrimis durchaus sehen lassen. Sie haben in den USA nun schon eine beachtliche Zahl erreicht, während erwähnenswerte deutsche Autoren in diesem Genre sich an einer Hand abzählen lassen. Anspruchsvolle Leser sind auf Importe angewiesen. Vielleicht liegt dies unter anderem daran, daß die Literatur in deutschen Landen auf eine andere Art politischer Korrektheit eingestimmt ist. Hier gibt es - anders als in den USA - in den fiktiven Chefsesseln des Staates samt seiner Geheimdienste offenbar weder Trottel noch Witzfiguren und schon gar keine Kriminellen. Bimbes-Affairen sind ebenfalls kein Thema. Aber vielleicht ändert sich das ja noch.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite