Eine Rezension von Ron Winkler


Hirnspuk mit Strukturmängeln

Werner Fritsch: Jenseits

Erzählung.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2000, 68 S.

 

„Nein nein nein, der Dichter will jetzt nichts Böses mehr schreiben Alles in ein schönes Licht bringen.“ Aber der Dichter hört nicht auf das, was sein Held ihm sagt. Der Dichter schreibt munter böse und ungebremst obszön. Und das Ganze wird beschleunigt und stakkato gesetzt und läßt kaum noch Platz für schönes Licht.

Ein „Jenseits“. Der Dichter ist Werner Fritsch, und im Halbdunkel seines instruierten Monologs vergurgelt die Sprache so betont in Sackgassen und Gedankenwechseln wie schon in anderen Texten zuvor: ungebügelt und lebensecht durch dialektalen Ton.

Jenseits ist kein Diesseits sprachlicher Konvention. Das Sprechen galoppiert zügellos, die Sätze sind im Umbruch, Passage um Passage endet in Blindgang und inmitten holpern die Wörter.

Werner Fritsch versucht, sich den Rohstoffcharakter des Denkens anzueignen, das Chaos vor der Formulierung. „Die Nacktheit hat ihn zeitlebens angezogen“, heißt es fast selbstreferentiell im Text.

Und jene Nacktheit ist nicht nur die der Moral, sondern auch die Schotterfläche des Denkens, bevor es in den Anzug von Intelligenz und Zivilisation geschlüpft ist. Jenseits ist ein entsprechend „nacktes“ Splitterstück, dessen Protagonist einen wild fragmentierten Monolog in die Welt spult und dabei vor Psychose kaum zur Ruhe kommt.

Der Held ist ein Antiheld ist ein Täter als Opfer. Ein Revolver ist ihm an den Schädel gedrückt, „und der Schuß kommt nicht kommt nicht kommt nicht“. Und so granterlt und bäuerlt sich der Exekutionsbefindliche im Geiste durch die Erinnerung und fragt, was ihn hier hat stehen machen. Wolfram Sexmachine Kühn erlebt die Beweisführung für seine Opferrolle mittels virtueller Rückschau. Sein Leben, bedroht von einem Killer mit Hitlermaske, zieht an ihm vorbei. Der Text, der das faßt, ist ein Patchwork der Debilitäten.

Kühn ist Unterweltler und Rotlichtler und so wenig zimperlich wie sein Milieu, also grob zuhälternd hier, routiniert chauvinistisch da. Ein durchaus zweifelhafter Sprecher, ein provinzgebohnerter Vierschröter allemal. In der Rekapitulation seines Lebens schwallt es von devianter Sexualpraxis, von Mißbräuchen und mentalen Gestörtheiten auf einer sozial abschüssigen Nebenstrecke des Menschentums.

Die „Nullacht von der Wehrmacht“ an der Stirn, katalysiert ein Geschwür von humanen Schweinigeleien aus Kühn heraus, der in seiner Gepeinigtenrolle zugleich den Tod als Erlösung begreift. Seine Tirade ins Blaue hinein schreibt ihm die Vergangenheit vom Hals, eine kleine Welt in der Halbwelt. Manchmal hat die Privatreflexion auch größere Reichweiten: „Irgendwo ist auch bei mir Sense Meine Generation eine Totentanzgeneration.“

Dennoch erscheint Werner Fritschs Jenseits als perpetuierter Bildersalat im Trivialbereich. Die Atemlosigkeit der Sprache ist so schnell ausgebremst wie das dünne Dahinter, in dem die Andeutung der Triumph des Autors scheint.

Mittels Kühn schreibt Fritsch zwar ein gut Stück sozialer Realität in die Literatur, aber der Text hat keine Konsequenzen. Um den Rezensenten etwas Böses sagen zu lassen: Die Zustandsbeschreibung ähnelt einem Lexikoneintrag ohne Tiefenwirkung.

Hätten wir Naturalismus, wäre sicher einiges recht kernig. Aber Naturalismus ist nicht mehr, und so kommt Fritschs bewußtseinsströmender Feldversuch eher seifig daher.

Sexmachine Kühn, der sich irrlichternd durch seine „Traumtrümmer“ bewegt, wird mit der Linearität der Ereignisse allein gelassen. Kaum einmal erlebt er die Amplitude einer besonderen Entwicklung, eines besonderen Gedankens. Nur fragmentarisch erhält das (literarische) Innenleben eine Chance: „Und ich seh Buddha an und denk Hoffentlich komm ich nicht auf Horror und seh Frankenstein bin ja zusammengesetzt aus so vielen Menschen wie ein Fernseher wo alle Programme gleichzeitig laufen Oder seh Dracula bin ja einer wo alles aussaugt was einen Rock anhat oder seh Werwolf bin ja ein Raubtier im Grunde.“

Zum psychologisch interessanten Text fehlt die Dimensionierung der Erfahrungen. Jenseits stagniert von Beginn an in panoramatischer Wiederholung. Porn and Crime am Fließband, ohne Kontingentierung. Was der Charakterstudie an Essenz fehlt, soll anscheinend der drastisch ausgestopfte Bildapparat ausgleichen. Doch Biographie allein ist zuwenig. Bei aller Progression des Sprechens bleibt der Eindruck, es mit nicht mehr als colorierter Plauderei zu tun zu haben. Man mag fast von Penetranz reden.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite