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Edith Herold

Die ersten zehn Jahre - die schwersten in der Ehe von Emilie und Theodor Fontane
Was Briefe und Tagebücher berichten

 

Neben seinen literarischen Arbeiten ist Theodor Fontane vor allem als fleißiger und exzellenter Briefschreiber bekannt geworden. Fast gar nicht bekannt ist dagegen, daß auch seine Ehefrau eine eifrige Briefschreiberin war, ihrem Mann an Mitteilungsfreude durchaus ebenbürtig. Mußten die beiden Eheleute getrennt leben, und das geschah zumindest in den ersten Ehejahren recht häufig, gingen regelmäßig Briefe hin und her. Jeder berichtete dem anderen, was er inzwischen erlebt hatte oder was ihm widerfahren war. Bei Theodor waren es meist Reiseerlebnisse, bei Emilie Probleme mit Haushalt und Kindern, aber auch freudige Mitteilungen über die Entwicklung des Nachwuchses.

Vielleicht sind Emilies Briefe literarisch nicht denen ihres Mannes gleichzusetzen, doch die Natürlichkeit und Frische ihrer Schilderungen machen sie zu einer reizvollen Lektüre und geben uns einen lebendigen Eindruck vom Leben in der Familie Theodor Fontanes.

Leider beginnt dieser Ehebriefwechsel tatsächlich erst während des zweiten Ehejahres der Fontanes. Die sicher recht reizvollen und aufschlußreichen Briefe aus der Verlobungszeit sind bis auf wenige verloren, da Emilie sie nach dem Tode ihres Mannes vernichtet hat. Warum sie es tat, wissen wir nicht. Waren sie zu intim, um veröffentlicht zu werden? Oder enthielten sie das Geständnis seiner Beziehungen zu anderen Frauen während seiner Apothekertätigkeit in Dresden und Hinweise auf die Existenz der beiden unehelichen Kinder, wovon nichts an die Öffentlichkeit dringen sollte? Wir wissen es nicht, und wir wissen auch nicht, wann es Emilie erfahren hat. Fest steht, daß sie nie schwankend geworden ist in ihren Gefühlen zu ihrem Theodor. Sehnsüchtig wartete sie darauf, heiraten zu können, denn in ihrer Jugend hatte sie als unehelich Geborene Sicherheit und Geborgenheit nicht kennengelernt. Ihrer Stiefmutter schrieb sie 1848, im dritten Jahre nach ihrer Verlobung mit Theodor Fontane: das Gefühl, nirgends recht hinzugehören, quäle sie und sie wünsche sich mit heißer Sehnsucht einen eigenen kleinen Herd. Theodors Briefe seien ihre größte Lust, und jeden Abend vor dem Einschlafen lese sie sie durch und sei dann so recht mit ganzer Seele bei ihm.

Vielleicht konnte er damals noch Liebesbriefe schreiben. Später konnte er es nicht. Er bestand darauf, es sei ihm nicht gegeben und den „Storm’schen Bibber“ habe er nun mal nicht.

Zwei Jahre später war es soweit, sie konnten am 16. Oktober 1850 nach 5jähriger Verlobungszeit endlich heiraten, nachdem Theodor durch den Eintritt in das Literarische Kabinett beim preußischen Innenministerium zum erstenmal eine Anstellung fand, die es ihm ermöglichte, seine Frau schlecht und recht zu ernähren. Doch bereits am 31. Dezember wurde das Literarische Kabinett aufgelöst, und mit der materiellen Sicherheit war es vorerst für längere Zeit vorbei. Dafür hatte sich aber bereits Nachwuchs angesagt. Es begann ein notvolles Jahr mit verzweifelten Versuchen, sich auf irgendeine Weise zu etablieren.

Am 14. August 1851 wurde das erste Kind geboren: der Sohn George Emile. Trotz aller materiellen Bedrängnis scheinen die Eltern über seine Geburt glücklich zu sein. Voller Stolz zeigt Fontane seinen Freunden die Geburt des Kindes an. An Wilhelm Wolfsohn schreibt er: „Am 14. August, just im höchsten Hunger-Stadium, ward mir ein kleiner Junge geboren, ein liebenswürdiges, reizendes Kind, das kein Mensch, mit Ausnahme seiner Eltern schön finden will - diese aber auch doppelt und dreifach. Würmchen heißt George Emile. Den Namen Theodor verweigerte ich, trotz Bitten meiner Frau, mit Beharrlichkeit, da ich meinen Ruhm auch mit meinem Erstgeborenen nicht teilen will. Mag er selbst dafür sorgen, vielleicht als Staatsmann oder Feldherr ...“1

Am 1. November 1851 nimmt Fontane eine Stelle in der neugegründeten „Zentralstelle für Preßangelegenheiten“ der preußischen Regierung an, und das glückliche Beisammensein der kleinen Familie hat vorerst ein Ende, als er im April 1852 als Korrespondent der „Preußischen Zeitung“ für einige Monate nach London geht. Hier beginnt nun der ausführliche Ehebriefwechsel.

Emilie berichtet regelmäßig und mit peinlichster Genauigkeit ihrem Mann über das Verhalten des Kindes, und es ist mitunter belustigend zu lesen, wie sie ihre eigenen Sehnsüchte und Wünsche in die Reaktionen des Kleinen hineininterpretiert. So schreibt sie zum Beispiel: „So eben wacht George auf, ich frage ihn soll Mutter Papa grüßen? da sieht er nach dem Bett wo Du immer schliefst, lacht und macht: ,ba‘.“2 Oder: „Dein Bild küßt er früh u. Abends, Du kannst denken wie rührend mir das ist; frage ich ,wo ist der liebe Papa?‘ so klatscht er in die Hände, zeigt nach dem Bilde und sagt: ta, ta!“3

Natürlich dürfen wir nicht annehmen, daß der Kleine seinen Vater auf dem Bild tatsächlich erkannt und entsprechend freudig darauf reagiert hat, denn es ist bekannt, daß Kinder unter zwei Jahren Personen auf Fotos nicht zu erkennen vermögen und dann auch immer zuerst die Mutter bzw. die Person, die am meisten um sie ist und sie betreut. Doch Emilie versucht auf diese rührend naive Art das Gefühl der Gemeinsamkeit, die ihr soviel bedeutet, heraufzubeschwören. Ihr Mann, von dem sie nun nach so kurzer Ehe bereits schon wieder getrennt leben muß, fehlt ihr sehr. Ohne eigenen Hausstand sitzt sie mit ihrem Kinde allein in Berlin, auf die Hilfe der Schwiegermutter oder Bekannter angewiesen. Mit den auftauchenden Problemen muß sie allein fertig werden. Und die ergeben sich schon bald, denn 6 Wochen nach Fontanes Abreise fühlt sie sich erneut schwanger. Voller Entsetzen und hilflos schreibt sie ihm:

„Geliebter Mann.

Mir ist heut so entsetzlich bange, daß ich, obwohl ich nicht einmal weiß wo meine Gedanken Dich suchen sollen, doch einige Worte an Dich richten muß. Seit gestern weiß ich durch die Jung mein Schicksal u. da ich Dir Nichts vor lamentieren will, so will ich Dir nicht beschreiben, wie mir seit dem zu Muthe ist. Aber ich bin trostlos! Mutter F. war Gott sei Dank mit mir u. hörte die Entdeckung mit an u. konnte mich in eine Droschke packen, wo ich denn im Fieber zu Hause kam. Ach zu Hause, ich habe nicht mehr zu Hause, denn Du mein Leben fehlst ja. Doch still, vernünftig, ich habe gelobt, ruhig und ergeben Alles zu ertragen ... Ich verspreche Dir, in meiner übergroßen Liebe zu Dir, daß ich Alles hier ohne Dich durch machen will u. daß Du meinetwegen nicht zurückkommen sollst, wenn Du irgendwie ein bischen Glück zu erfassen meinst, aber mein süßes Herz, gieb auch mir nun das Recht, mich ohne sündhaft zu sein, unglücklich zu nennen. Ich habe noch nicht Glauben u. Ergebung genug, um still zu dulden ...“4

Diese stille Duldung sollte sie bald lernen, und noch oft in ihrem Leben mußte sie davon Gebrauch machen.

Viel später wird Gerhart Hauptmann über einen Besuch bei Fontanes berichten und von der resoluten Frau Fontane sprechen, die er dort kennenlernte. Doch bis dahin ist noch ein weiter Weg. Ich kann sie mir als solche nicht vorstellen, auch später nicht. Und wenn sie es doch geworden sein sollte, dann haben sie wohl die äußeren Umstände dazu gemacht. Für mich ist sie in allen ihren Briefen immer die warmherzige, anpassungsbereite Frau geblieben, die sich selbst zurücknimmt, um sich seinem Werk und seinem komplizierten Charakter unterzuordnen.

Ihren angstvollen Aufschrei auf die Bestätigung ihrer erneuten Schwangerschaft erhält Fontane 7 Tage später in Brüssel und antwortet, nachdem er ihr zunächst einen genauen Verlauf seiner Reise geschildert hat, auf folgende Weise:

„Mein liebes armes Herz was soll ich Dir für Trost sagen! ich habe selber nicht viel, und Du weißt ich kann nichts sprechen und schreiben was mir nicht von Herzen geht. Ich kann Dir nur zurufen, was ich Dir schon so oft zugerufen habe: ,laß uns mit Ergebung tragen, was der Himmel über uns verhängt“ ... Uebrigens sollst Du nicht alles ohne mich durchmachen: entweder - und das gebe Gott - hab’ ich die große Freude Dich schon im Sommer zu mir zu rufen, oder ich verlasse London zu Ende August und steh Dir in der schweren Zeit, so gut ichs kann, zur Seite.“5

Der Realist Fontane unterwirft sich dem himmlischen Ratschluß - ein Bild, das mir nicht so recht in den Kopf will. Ihm kommt diese Angelegenheit natürlich sehr ungelegen, und er hat keine Lust, sich jetzt, nachdem er endlich der häuslichen Enge entflohen ist und seiner Anglomanie frönen kann, den Kopf damit heiß zu machen. Und er weiß: Wenn er seiner Frau mit göttlichem Beschluß kommt, ist sie am schnellsten zu beruhigen.

Henriette von Merckel hat einmal geäußert, sie halte Fontane für tiefreligiös, auch wenn er nicht in die Kirche gehe. Ich habe lange nach Begründungen für diese Behauptung gesucht, aber keine passenden finden können.

Natürlich wird aus seinem Angebot nichts, und es ist Emilie, die trotz ihrer großen Sehnsucht und Einsamkeit aus Vernunftgründen auf seinen Vorschlag nicht eingehen will, denn - so schreibt sie: „Erstlich haben wir in Berlin mit 50 T monatlich nie gelangt mit einem Kinde, meine Entbindung hat mehr wie 30 T gekostet u. hatten wir Pflege Deiner Mutter wie noch Unterstützung in anderer Weise von ihr umsonst; u. wie kann es mir bei meinem Zustand in einem fremden Lande gehen, so Gott will, besser wie das vorige Mal, aber auch noch viel schlimmer u. was hättest Du dann? Sorge, Angst u. Unruhe, die Dich zu jeder Arbeit und zu jedem Streben unfähig machen würden ...“6

Er gibt sich schnell damit zufrieden, kommt auch im August nicht zurück, und eine plausible Begründung dafür hat er auch zur Hand: „Jetzt sag’ ich: ,Du mußt zurück! es ist jämmerlich eine Frau so lange allein zu lassen! ein bischen englisch mehr oder weniger macht den Kohl nicht fett! und wenn ihr was zustieße - Du müßtest Dir stets Vorwürfe machen usw.‘ Dann sag ich mir wieder: ,Courage! ausgehalten!‘ helfen kannst Du Deiner Frau doch nicht, Du kannst nun mal schlechterdings das Kind nicht kriegen, wohl aber ist es ein Unterschied 8 Wochen länger hier oder nicht ...“7

Emilie bringt am 2. September in Berlin ihren zweiten Sohn allein zur Welt.

„Also mit Gott No 2 und wieder ein Junge!“ antwortet er von London auf die Nachricht von der Geburt des Kindes. „Wäre der Witz nicht zu alt, so würd’ ich von dem 7ten sprechen, zu dem wir auf gut-preußisch den König zu Gevatter bitten wollen ...“8 Und ein paar Tage später: „Ueber das Neugeborne kann ich hier wenig Worte machen, denn für mich ist es immer noch wie in Mutterleibe - ich kenn’ es nicht, so daß sich meine Liebesgedanken zum guten Theil auf George concentrieren, dem dann später ein Theil abgezogen werden soll ...“9

Emilie warf ihm vor, sein erster Brief nach ihrer Entbindung sei nüchtern gewesen. Damit hat sie wohl allzu recht. Auch von seiner Liebe zu George mußte er keine Abstriche machen, denn bereits am 16. September schreibt Emilie ihrem Mann:

„Mein Herzensmann.

Daß ich Dir heute schreiben muß, anstatt zu Dir reden zu können, wird mir auch schwer, aber der liebe Gott prüft mich sehr mein Theo, u. oft habe ich in diesen Schmerzenstagen jammernd meine Hände nach Dir ausgestreckt u. nur in ruhigen Augenblicken Gott gedankt, daß ich Alles für Dich mit habe tragen können. Ja, mein einziger Herzensmann, ich leide viel; gestern Abend um 7 Uhr hat der liebe Gott unseren kleinen Neugebornen wieder zu sich genommen!“10

Sie hat ihn auch allein begraben müssen.

Während der Abwesenheit ihres Mannes hat Emilie eingehend über alle Details berichtet, die die Entwicklung Georges betrafen. Darauf geht er - da es meist erfreuliche Berichte sind - gern und freudig ein und nimmt großen Anteil am Gedeihen des Kleinen:

„Was Du mir über unser Kind schreibst, freut mich immer ungemein; fahre ja damit fort und gebe Gott, daß die Nachrichten über den kleinen Menschen immer so freundlich lauten wie bisher.“11

Emilie schneidet dem Kleinen eine Locke ab und schickt sie dem Vater. Der klebt sie in sein Notizbuch. Nur findet er, der Junge habe storres Haar, sein eigenes, mit dem er es vergleicht, sei viel feiner. Er hebt die ersten Krakel auf, die der Kleine auf einen Zettel kritzelt, und klebt sie zur Locke ebenfalls ins Notizbuch.

Ende September kehrt Fontane wieder nach Berlin zurück.

Am 14.Oktober 1853 wird der dritte Sohn Peter Paul geboren, der am 6. April 1854 an Zahnkrämpfen stirbt.

Fontane erleidet einen Nervenzusammenbruch und drückt seine Trauer über den Tod des Kindes in dem Gedicht „Der Gast“ aus.

Ein Jahr später wird Emilie von einem 4. Sohn, Ullrich, entbunden, der nach wenigen Tagen ebenfalls stirbt.

George ist und bleibt also sein Liebling, und er berichtet Freunden und Verwandten stolz über die Fähigkeiten und altklugen Antworten des Kleinen. So im Februar 1855 an Paul Heyse:

„Unser George ist unsere ganze Freude. Betreffs Kindergeschichten concurriren wir bereits mit Storm und lassen kein Ohr vorüber ohne das Uhrwerk George Fontane’scher Anekdoten abgeschnurrt zu haben. Auch Du mußt herhalten, schlimmstenfalls mag Deine Frau mittragen:

1) Wenige Tage vor Weihnachten saßen wir bei Josty um Chokolade zu trinken, George ehrpußlig auf einem hohen Stuhl zwischen uns. Als der Kellner 2 Tassen brachte und vor uns hinstellte, wandte sich George an ihn: ,Josty, mir auch eine!‘

2) Am Ellora-Weihnachtsfest, als alles schon laut und lustig war, wandte sich Lucae fragend an Friede Eggers und rief: Nun, Friede? Eh er fortfahren oder Eggers antworten konnte, klang die fromme Kinderstimme dazwischen: ,Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.‘ Die ganze Ellora war wie angedonnert.“12

Anfang September 1855 verläßt Fontane erneut Berlin in Richtung London, um dort den Aufbau und die Leitung einer „Deutsch-Englischen Pressekorrespondenz“ im Auftrag der preußischen Regierung zu übernehmen. Ein halbes Jahr später, als die Pressekorrespondenz eingestellt wird, bleibt er aber als halbamtlicher „Presse-Agent“ in London.

Emilie ist wieder allein mit George in Berlin. Wie beim ersten Londoner Aufenthalt Fontanes gehen fast täglich Briefe hin und her. Emilie, so spürt man aus ihren Briefen, ist deutlich selbstbewußter geworden. Einige Wochen verbringt sie mit dem Kind in Schlesien bei ihrer Freundin Johanna Treutler, die dort mit ihrer Familie in guten Verhältnissen lebt und die beiden verwöhnt, wo sie nur kann. Emilie genießt es. George ist den ganzen Tag draußen in frischer Luft und beim Vieh in den Ställen und fällt abends todmüde ins Bett. Er beginnt sich von Mutters Schürze zu lösen, fährt mit dem Kutscher ganz allein in die nähere Umgebung und ist fröhlich und guter Dinge. Emilie berichtet nach London:

„Wenn er so fortfährt, sich muthig zu entwickeln, wie in diesen 8 Tagen, dann führe ich Dir bei unserem Wiedersehn einen vollendeten Helden zu ...“

Doch um dem Vater nicht das Gefühl des Überflüssigseins und Vergessenwerdens zu geben, fügt sie ein paar Tage später diplomatisch folgende Schilderung hinzu:

„So eben habe ich Georgechen zu Bett gebracht, nachdem ich eine rührende Scene mit ihm hatte. Er weinte nämlich bitterlich nach seinem ,süßen Vater‘ wie er sagte u. verlangte Dein Bild zu sehen, bei dessen Anblick er sich beruhigte; er küßte ein paarmal den Mund u. sagte dann: schreibe nur du wärst meine süße Mutter u. er mein süßer Papa.“13

Das ist natürlich Musik in den Ohren des Vaters, der ihm auch prompt einen Londoner Bun verspricht - das ist ein gelber Butterkuchen mit großen Zuckerstücken und Citronat. Er bittet seine Frau, mit solchen Mitteilungen fortzufahren, denn „die kleine und beschränkte Welt ist immer die wohlthuendste“.14

Emilie fährt fort, ihm genauestens alle kleinen Vorfälle zu schildern: daß der Junge sich den ganzen Tag bei Ochsen und Pferden herumtreibt, täglich seine Milch im Kuhstall trinkt und mit den Gänsejungen spielt, die seine Soldaten darzustellen haben, die er herumkommandiert und die ihm „ängstlich gehorchen“. Es scheinen sich also schon in früher Kindheit die Interessen des Jungen herauszukristallisieren, denn er wird später ja eine militärische Laufbahn einschlagen. Emilie ist offenbar ein bißchen diplomatischer geworden und versucht, auch für sich eine kleine Anerkennung zu ergattern, die ihr sonst meist versagt bleibt:

„Was mich am meisten freut, ist, daß seine Sehnsucht nach Dir auch steigt, nicht nachläßt, wie sonst bei Kindern. Heute früh nahm er den Brief der Merckel mit Jubel dem Briefträger ab u. schrie: von meinem Papa! und war nachher ordentlich über seinen Irrthum betreten. Zu meinem Lobe kann ich freilich nicht verhehlen, daß ich mit Eifer die Liebe zu Dir in ihm pflege.“15

Als sie später wieder von Berlin aus Briefe schreibt, fragt sie regelmäßig den Kleinen, welche Nachricht sie dem Vater von ihm schicken soll, und er diktiert ihr Sätze wie:

„Süßer Fontane, wir kommen, komm bald wieder - gar nix mehr. Dein artiger George.“16

Ab und zu gibt es kleine Probleme, z. B. wenn George Zahnschmerzen bekommt. Der Vater sendet dann genaue Therapieanweisungen aus London:

„Wenn George Zahnweh hat, so muß er sich zunächst den Mund ausspülen, oder wenn er das noch nicht kann, Wasser trinken. Dann nimmst Du ein Kügelchen von weichem Papier und trocknest ihm, versteht sich nach vorhergegangener Säuberung des hohlen Zahns, den letzteren damit aus. Dann Paraguay-Roux in bekannter Weise oder im schlimmsten Fall einen kleinen Tropfen Pfeffermünzöl ...“17

Was hätte sie wohl gemacht, wenn sie keinen Apotheker zum Mann gehabt hätte? Vielleicht wäre sie dann ganz einfach zum Zahnarzt gegangen! Und bei Zahnschmerzen bleibt es nicht. Die üblichen Kinderkrankheiten stellen sich ein, die Windpocken z. B. Emilie versucht, sie mit Abführpillen zu kurieren, was von ihrem Apotheker-Mann ohne Widerspruch hingenommen wird.

Auch nach Neu-Ruppin zur Schwiegermutter fährt Emilie mit dem Kind. Doch dort fühlt sie sich nicht sehr wohl. Nach London berichtet sie:

„Es ist unendlich schwer, mit unsrer guten Mutter zu leben; nur vollständige Unterjochung jeder auch der kleinsten Meinung, unter ihren Willen, würde sie befriedigen. Sie ist in einer so gereizten Stimmung ... So auch mit George; verbiete ich dem Jungen was, so erlaubt sie es unbedingt, dagegen erzieht sie ihn wie ihre Kinder.“18

Das alte Generationenproblem also: Die Großmutter mischt sich in die Erziehung ein und untergräbt damit die Autorität der jungen Frau. Auch später berichtet Emilie, daß George Magenschmerzen habe von den Tüten der Großmutter, die ihn offensichtlich mit Zuckerzeug vollstopft. George jedoch überrascht mit ständig neuen Einfällen. Er scheint ein sehr temperamentvolles, aber auch ein überaus sensibles und gutmütiges Kind gewesen zu sein. Emilie schreibt:

„Mit Leidenschaft tanzt er, dann stellt er sich vor uns hin, macht einen tiefen Diener, wobei der Kopf über eine Minute auf der Brust hängen bleibt u. sagt: ,Darf ich die Ehre bitten zum nächsten Polkatanz?‘ u. dann gehts wie rasend im Zimmer umher... Nur Gedichte darf ich ihm nicht vorlesen; neulich las ich ihm ,vom Bäumlein, das andre Blätter hat gewollt‘ vor; er kam u. legte seinen Kopf in meinen Schooß u. fing schmerzlich an zu weinen. So auch gestern, als ich kleine, heitre Lieder wählte.“19 Vierzehn Tage vor Weihnachten berichtet sie:

„Neulich ging ich mit ihm spatzieren; es lag Schnee u. war glatt. Vor uns ging ein ganz kleines Mädchen, unsicher, mit einmal lag sie mit Geschrei da. Ich hob sie mit den Worten ,Weine doch nicht‘ auf. Georgechen nahm sie dann an eine Hand ich an die andre u. auf sein Bitten mußte ich sie bis zu Hause bringen. Als wir sie glücklich abgeliefert hatten u. weiter gingen, sagte er mit einemmal: warum sagtest du denn zu dem kleinen Mädchen (er nahm einen etwas harten Ton an) weine doch nicht? Worauf ich erwiderte, nun, wie hätte ich denn sagen sollen? Er darauf (in sehr weichem zärtlichen Ausdruck): ,weine doch nicht‘ hättest Du sagen sollen, das klingt besser.“20

Der Vater antwortet voller Stolz über das Verhalten seines Sohnes:

„ Die Anekdote, die Du mir in Betreff des kleinen Kerls erzählst, ist reizend. Es spricht sich eine feine Natur darin aus. Ich darf es sagen, ich war ein generöser, nobler Junge (man bleibt nicht ganz das, was man war) und ich würde mich freun, an und in dem Kinde eine ähnliche Natur sich entwickeln zu sehn. An sich selbst hat man das alles unbewußt und daher ohne besondren Genuß gehabt; aber dieselben Züge später, an dem eignen Kinde, mit vollem Bewußtsein verfolgen zu können, denk’ ich mir eine große Freude.“21

Nachdem sie das Weihnachtsfest 1855 ohne den Vater bei der Großmutter in Neu-Ruppin verbracht haben, ist es im Januar 1856 endlich soweit: Sie fahren gemeinsam mit Fontanes Schwester Elise nach London. Fontane hatte versprochen: „Den Butterkuchen für George werde ich backen lassen.“22 Den bekommt er und dazu auch ein schottisches Kostüm.

Im Mai kehren sie nach Berlin zurück. Das alte Lied beginnt von vorn: Emilie ist wieder schwanger und muß allein mit ihren Problemen fertig werden. Die beginnen schon bald nach der Rückkehr.

George scheint ernsthaft krank geworden zu sein. Emilie hat ihrem Mann in einem nicht erhaltenen Brief darüber berichtet, und diesmal ist auch für den Vater die Trennung eine große Belastung. Er bangt ernsthaft um die Gesundheit des Kindes und zeigt wenig Vertrauen in die Behandlungsweise seiner Frau, wie der folgende Brief beweist:

„Wie ich Dir schon gestern schrieb, ich hatte Mittwoch und Donnerstag Nacht scheußliche Träume, immer von George und weinte im Traum. Von Sonntag auf Montag sah ich nichts wie vollgesogne Blutigel und ich ängstige mich wirklich, wenn es mir auch nicht ähnlich sieht. Ich halt’ es nämlich für möglich, daß das Kind die Gehirnentzündung oder das Scharlachfieber gekriegt hat. In solchen Momenten fühl’ ich nun freilich, daß meine alte Giftmischerei Dir fehlen muß, denn Du scheinst nicht einmal eine Ahnung davon zu haben, wie schlimm solche Dinge ausfallen können. Das einzig Tröstliche ist die Nachschrift, ,daß er mit Appetit seine Suppe ißt‘. Ich hoffe zu Gott, daß alles gut vorübergegangen ist ... Väterchens Rezept für George’chen lautet: viel Wasser mit Brausepulver oder Cremor Tartari, viel Abführ-Pastillen, keine Nascherei und Bewegung. Wenn dann der Papa wiederkommt, bringt er auch was Hübsches mit, was Georgechen in einem von ihm selber geschriebenen Briefe sich wünschen mag. Es kann 6 Shillinge oder 72 Pennys oder 720 preuß. Pfennige kosten ...“23

Alles stellt sich dann glücklicherweise als harmlos heraus. Doch George nützt die Sorge des Vaters und seine damit verbundene Großzügigkeit weidlich aus. Er wünscht sich einen Tuschkasten und Bilder dazu. Emilie erträgt ihren Zustand trotz fortwährenden Umherziehens zu Verwandten und befreundeten Familien diesmal mit großer Geduld.

„... für mein zu Erwartendes häkle u. sticke ich allerlei u. freue mich auf das Kind, so daß im Gedanken an dasselbe ich mich hege und pflege.“24 Lange jedoch hält der friedliche Zustand nicht an, Mutter und Sohn leiden beide unter den unsicheren Verhältnissen:

„Der Junge ist zu nervös u. dies regellose Leben greift ihn an wie mich, ich sehne mich unbeschreiblich nach Ruhe“, schreibt sie nach London kurz darauf.25 „Das Schlimme u. mich sehr hemmende ist, daß unser armer Dicker ein Wechselfieber hat ... Unser armer Junge stöhnt im Fieber u. alle Minuten muß ich aufspringen um ihm Wasser zu reichen.“26 Das ist für eine schwangere Frau natürlich eine erhebliche Belastung. Doch darüber verliert der liebe Ehemann kein Wort. Er gibt von ferne nur wieder seine Anweisungen:

„Sei in dieser Sache achtsam: Fieber kehrt nämlich immer wieder, weil die Menschen immer dumm, leichtsinnig und knauserig verfahren. Und wenn 7 Wochen bereits vergangen sind, müssen bestimmte Anordnungen und ein mäßiger Gebrauch von Chinin immer beibehalten werden.“27 Als Lohn für gutes Befolgen seiner Anordnungen verspricht er dem Kleinen, aus London einen Bun und eine schottische Mütze mitzubringen. Emilie dagegen bekommt eine ernste Mahnung, die fast wie eine Schuldzuweisung klingt:

„Ich wünsche recht sehr, daß Du ein gesundes Kind zur Welt bringst, das Geschlecht ist vorläufig gleichgültig und alles wird dankbar acceptirt. Nur keine allzu elenden Würmerchen; es ist eine Art Ehrensache; also nimm Dich zusammen und thu das Deine. Man schreibt mir sonst auf den Grabstein: seine Balladen waren strammer als seine Kinder.“28

Das soll wohl humorvoll sein, aber es klingt doch sehr nach verletzter männlicher Eitelkeit. Vielleicht hat er dabei voller Neid an Storm gedacht, der eine Reihe gesunder Kinder hatte, über den er aber verächtlich geäußert hatte, er sei ein „kränkliches Männchen“, er, Fontane, aber sei „gesund trotz seiner äußeren Kränklichkeiten“.

An ihm konnte es also nicht liegen, wenn die Kinder nicht gediehen. Wer anders als Emilie konnte daran schuld sein? Und so gibt er ihr Verhaltensregeln, die sie zu beachten habe:

„Ich wollte Dir noch“, so schreibt er, „eine Art medizinischen Vortrag über Deinen Zustand halten. Ich habe dabei den Zweck, Dich zur Vorsicht und zu einem raisonablen Verfahren zu ermahnen. Was bei Dir schwach ist, sind die sogenannten Mutterbänder, die wie zwei Strippen das Kind in der Schwebe halten. Starke Strippen können viel tragen, schwache wenig. Daher sind Deine Kinder so klein und kümmerlich, weil die Natur in ihrer Weisheit an diese Bänder nicht mehr hängt, als sie einigermaßen tragen können. Wenn Du Dich nun aber viel ruhst (es giebt Frauen die die ganzen 9 Monat auf dem Sopha liegen) so ist kein Grund vorhanden, warum das Kind nicht wachsen und gedeihen sollte. - Es kommt noch etwas andres hinzu. Die Ruhe ist von Behaglichkeit und Wohlbefinden, das Arbeiten und Umherlaufen von Ermattung und äußerster Nervenverstimmung begleitet. Also nicht nur, daß das Kind in der Ruhe besser wächst, nein, es wächst auch gesünder und wenn Du diesen meinen Rath befolgst und Gott es nicht überhaupt anders beschlossen hat“ - er läßt sich also ein Hintertürchen offen, falls sein Rat doch nicht helfen sollte - „so wirst Du mit seiner Hülfe, durch dies ganz einfache Mittel, ein stärkeres und gesünderes Kind zur Welt bringen.“29

Da drängt sich einem natürlich die Frage auf, ob dieser Mann wirklich nie daran gedacht hat, daß Emilie, die unter den schwersten psychischen und äußeren Bedingungen jedes Jahr ein Kind zur Welt bringen mußte, sich am Rande völliger Erschöpfung befand und unter diesen Voraussetzungen die Kinder nicht besonders kräftig ausfallen konnten!

Daß Emilie sich an seinen Rat gehalten hat, ist kaum anzunehmen, denn er ist unzumutbar und undurchführbar in ihrer Lage. Doch diesmal brachte sie tatsächlich ein lebensfähiges Kind zur Welt.

Am 3. November 1856 wurde der Sohn Theo geboren. Also wieder ein Junge. George, der sich ganz auf ein Schwesterchen eingestellt hatte, wird durch zwei Zuckertüten getröstet, und der Vater nimmt es gelassen hin, bittet nur, ihm eine detaillierte Beschreibung von dem „kleinen Engländer“, wie er ihn nennt, zu geben.

Emilie berichtet, der Kleine sei ein Schwarzkopf mit seidenweichem Haar und gleiche dem Vater wie keines ihrer Kinder. Auch diesmal geht es ohne Probleme nicht ab. Theos Amme versagt. Es muß eine neue gefunden werden, und das ist nicht leicht. Emilie sorgt sich sehr um den Kleinen, und der Vater in London ist ungehalten:

„Ich hoffe von ganzem Herzen, daß nun eine Amme bereits gefunden ist“, schreibt er. „Ich wünschte nicht, daß das Kind wieder verquiente; so viel Geld muß da sein und soviel ist da. Fehlt es mal, so mußt Du auch was dazu thun. Wenn Du glaubst, daß ich mir ein Vergnügen daraus mache zu pumpen, irrst Du. Ich kann von hier aus nicht alles besorgen und unter Umständen mußt Du Dir selbst helfen. Spare kein Geld nach der Seite hin (ich meine für eine Amme) geh oder schicke wenn nichts da ist zu Metzel, man muß Dir dann was geben. Sonst hol alles der Teufel.“

Zum Glück konnte Emilie diesmal mit dem Beistand Henriette von Merckels rechnen, die ihr zur wahren Freundin geworden war und sich hilfreich und uneigennützig erwies. Sie wurde Theos Patin und hielt ihn an einem kalten Wintermorgen allein über die Taufe. Sie hat bis zu ihrem Tode ihrem Patenkind eine besondere Anhänglichkeit bewahrt, und auch Theo fühlte sich stark zu ihr hingezogen.

Im Anschluß an das Wochenbett erkrankte Emilie gefährlich. Offenbar an einer postpartalen Gebärmutterentzündung. Fontane erfuhr es erst, als sie sich wieder auf dem Wege der Besserung befand.

George, der die Liebe der Mutter nun mit dem Bruder teilen muß, beginnt durch Rüpeleien auf sich aufmerksam zu machen. Emilie berichtet nach London:

„Mit George ist es kaum zu ertragen u. fehlt ihm die väterliche Zucht vor Allem. Er ist von Schalkheit u. durchtriebenen Einfällen zusammengesetzt, was seine Erziehung sehr erschwert, denn wo er Hiebe verdiente, müssen wir oft allesammt laut auflachen.“30

Doch von väterlicher Zucht hätte sie wohl kaum viel zu erwarten gehabt. Der Vater, wie immer stolz auf seinen Liebling, gibt zur Antwort: „Deine Mittheilungen über meinen Liebling George erfreun mich immer sehr und es thut einem wohl zu hören, daß er nicht auf den Kopf gefallen ist. Stör’ ihn nur nicht in seiner Unbefangenheit und mach’ ihn nicht eitel. Seine Ungezogenheiten sind mir nicht ängstlich. Laß mich wissen, was er sich zu Weihnachten wünscht ...“31

Emilie tut ganz in eigener Entscheidung etwas Vernünftiges: Sie schickt George in die Schule: „... eine sehr gute Schule“, schreibt sie ihrem Mann, „von Schmidt auf dem Leipziger Platz; kostet freilich auch Geld 6 T 20 Sgr. bis Ostern. Er lernt unberufen prächtig und namentlich scheint ihm das Schreiben Vergnügen zu machen ... Fournier, Fr. v. Merckel u. Mutter haben mir zugeredet u. merken wir jetzt schon die heilsamen Folgen.“32

Die Reaktion des Vaters:

„George’chens Schulbesuch, da es ihm Freude zu machen scheint, ist mir recht; sonst würd’ ich dagegen sein. Keine Quälerei.“33

Emilie lernt, da die Aussicht, einmal mit den Kindern nach London überzusiedeln allmählich Gestalt gewinnt, zusammen mit George Englisch. Dem Jungen macht es Spaß, und oft wundert er sich über die Ähnlichkeit mancher Wörter, die in der anderen Sprache doch eine ganz andere Bedeutung haben. So fragt er einmal: „mother heißt doch hier Dreck: wie heißt denn in London, wo mother Mutter heißt, Dreck?“34

Fontane beabsichtigt zunächst noch einmal nach Berlin auf Besuch zu kommen. Emilie bereitet ihn schonend auf die Unebenheiten ihres jüngsten Sohnes vor, den er ja noch nicht gesehen hat:

„... und wird Dir der Kleine, vor dessen großen Ohren ich Dich nicht zu erschrecken bitte, ganz gut gefallen ... Lepel fand ihn nett, und seiner schönen Mutter ähnlich; die Arme wird aber wohl barhäuptig vor Dir erscheinen, denn ihr Haarschmuck besteht aus einem Rattenschwänzchen; ich hoffe, Deiner Liebe wird es keinen Abbruch thun, denn auch ich habe standhaft den Anfang Deiner Glatze mit angesehen ...“35

Der Vater kommt gewissermaßen auf Urlaub nach Berlin. Über seine Reaktion auf das neue Familienmitglied mit den großen Ohren erfahren wir nichts, während seine Vorliebe für George immer wieder zum Ausdruck kommt. Nach seiner Abreise notiert Fontane in seinem Tagebuch: „George unglücklich über die Abreise seines Vaters, der ihm immer Kuchen gekauft und soviel Spaß mit ihm gemacht hat.“

Derweilen versucht die Mutter auf etwas drastischere Art, ihrer Erziehungsfunktion gerecht zu werden. Sie verteilt an Stelle von Geschenken oft einmal Hiebe und berichtet ihrem Mann über George nach London: „... neulich hatte er seine Tafel in der Schule gelassen u. glaubte, er hätte sie vergessen, worauf ich ihn mit Schlägen drohte. Abends weinte er bitterlich u. sagte: bitte verzeih es mir doch noch einmal, ich laß mich nicht sehr gern schlagen. Da mußte ich doch verzeihen.“36

Schläge waren damals ein absolut gängiges Erziehungsmittel, das auch bei kleinsten Nachlässigkeiten zum Einsatz kam und von den Kindern als Selbstverständlichkeit akzeptiert wurde. Alle ihre Kinder wurden dieser etwas lockeren Hand teilhaftig. Später berichtet Emilie einmal über günstige Erziehungsresultate an Friedel, der offenbar oft recht bockig und eigensinnig war. Freilich, schreibt sie, „zeugen grün u. blaue Flecke auf seinem fetten Hintertheilchen wodurch die Erziehungsresultate erzielt worden sind.“37 Sie habe ihm erklärt, daß sie den Bock aus ihm herausprügle, der ihm im Fleische säße - worauf er sich beruhigt haben soll. Auch Mete entgeht der Rute nicht, die Emilie regelmäßig zum Einsatz bringt und während ihrer Besuche in Neuhof immer mit sich herumträgt.

Die Fontaneschen Kinder wurden also mit Zuckerbrot und Peitsche großgezogen, ähnlich wie eine Generation vorher die Kinder in Fontanes Elternhaus. Dort hatte allerdings der Vater - wenn auch höchst widerwillig - die Peitsche zu schwingen, während die Mutter sich dezent zurückzog, wenn das von ihr geforderte Strafgericht über die Kinder hereinbrach. Daß Fontane die Erziehungsmaßnahmen seiner Frau mißbilligte, habe ich nirgendwo finden können. Er war wohl froh, daß sie die Kinder einigermaßen in Schach hielt und er selbst nicht tätig eingreifen mußte.

Während aber Emilie mütterliche Liebe und fühlbare Erziehungsmaßnahmen gleichmäßig über ihre Kinder verteilte, kam das väterliche Zuckerbrot - so finde ich - nicht allen in gleichem Maße zuteil. George wird in vielen seiner Briefe und auch in Tagebuchaufzeichnungen erwähnt und mit Lob bedacht, Theo dagegen findet wenig Beachtung, obwohl die Mutter sich oftmals lobend über ihn äußert und ihn als wahres Prachtstück bezeichnet. Der Vater hat Zeit seines Lebens kein inniges Verhältnis zu ihm finden können. 1869, als Emilie einmal verreist war, berichtet Fontane ihr:

„Theo hab ich eben ins Theater geschickt (Minna von Barnhelm). Er küßt einem dann immer Stirn, Mund und Hände; fast zu viel ...“38

Wie erkältet devot muß das Verhältnis zum Vater gewesen sein, wenn der Junge für eine Freundlichkeit sich solcher Dankesbezeugungen bedient und der Vater nicht in der Lage ist, ihm zu wehren!

Ende Juli 1857, nachdem beide Kinder noch rechtzeitig die Masern absolviert haben und der Vater wieder genaue Verhaltensregeln gegeben hat, ist es endlich soweit, sie können nach London übersiedeln. Emilie verkauft das Wenige, das sie besitzen. Eine kleine Episode, die sich in diesem Zusammenhang abspielt, erscheint mir bezeichnend für Georges Charakter:

Eines Abends, kurz vor der Abreise, sagte die Mutter zu ihm: „... nun zieh deine Stiefel aus u. schieße Kobolz auf dem Sopha, es gehört uns ja nicht mehr.“ George sieht sie daraufhin verwundert an und erwidert: „... nun, dann muß ich es ja erst recht nicht thun.“39

Mit der Übersiedlung der Familie nach London endet der erste Teil des Fontaneschen Ehebriefwechsels, der uns tiefe Einblicke in die ersten Jahre ihrer Ehe und die frühe Entwicklung ihrer beiden ersten Kinder gewährt.

Quellen:

Theodor Fontane: Briefe. Erster Band, 1833-1860. In: Werke, Schriften, Briefe. Abteilung IV/1. Carl Hanser Verlag, München 1976

Emilie und Theodor Fontane: Der Ehebriefwechsel. Band 1 und 2. In Theodor Fontane. Große Brandenburger Ausgabe. Aufbau-Verlag, Berlin 1998

Theodor Fontane: Tagebücher 1852/1855-1858. In: Große Brandenburger Ausgabe. Aufbau-Verlag, Berlin 1994

Anmerkungen:

Zitate aus EBW I, XIV

1 Fontane an Wilhelm Wolfsohn, 14. August 1851

2 Emilie Fontane an Theodor Fontane, 23. April 1852

3 Emilie Fontane an Theodor Fontane, 4. Mai 1852

4 Emilie Fontane an Theodor Fontane, 10. April 1852

5 Keine Angaben

6 Emilie Fontane an Theodor Fontane, Liegnitz, 4. Juni 1852

7 Theodor Fontane an Emilie Fontane, London, 20. Juli 1852

8 Theodor Fontane an Emilie Fontane, London, 6. Sept. 1852

9 Theodor Fontane an Emilie Fontane, London, 13. Sept. 1852

10 Emilie Fontane an Theodor Fontane, Berlin, 16. Sept. 1852

11 Theodor Fontane an Emilie Fontane, London, 13. Mai 1852

12 Theodor Fontane an Paul Heyse, Berlin, 4. Febr. 1855

13 Emilie Fontane an Theodor Fontane, Neuhof, 11. Sept. 1855

14 Theodor Fontane an Emilie Fontane, London, 25. Sept. 1855

15 Emilie Fontane an Theodor Fontane, Neuhof 2. Okt. 1855

16 Emilie Fontane an Theodor Fontane, Berlin, 20. Okt. 1855

17 Theodor Fontane an Emilie Fontane, London, 15. Nov. 1855

18 Emilie Fontane an Theodor Fontane, Neu-Ruppin, 1. Dez. 1855

19 Emilie Fontane an Theodor Fontane, Neu-Ruppin, 21. Nov. 1855

20 Emilie Fontane an Theodor Fontane, Neu-Ruppin, 10. Dez. 1855

21 Theodor Fontane an Emilie Fontane, London, 15. Dez. 1855

22 Theodor Fontane an Emilie Fontane, London, 5. Dez. 1855

23 Theodor Fontane an Emilie Fontane, London, 11. Juni 1856

24 Emilie Fontane an Theodor Fontane, Luckenwalde, 15. Juni 1856

25 Emilie Fontane an Theodor Fontane, Berlin, 29. Juni 1856

26 Emilie Fontane an Theodor Fontane, Berlin, 3. Juli 1856

27 Theodor Fontane an Emilie Fontane, London, 5. Juli 1856

28 Theodor Fontane an Emilie Fontane, London, 23. Juli 1856

29 Theodor Fontane an Emilie Fontane, London, 26. Nov. 1856

30 Emilie Fontane an Theodor Fontane, Berlin, 23. Nov. 1856

31 Theodor Fontane an Emilie Fontane, London, 3. Dez. 1856

32 Emilie Fontane an Theodor Fontane, Berlin, 17. Jan. 1857

33 Theodor Fontane an Emilie Fontane, London, 20. Jan. 1857

34 Emilie Fontane an Theodor Fontane, Berlin, 24. Febr. 1857

35 Emilie Fontane an Theodor Fontane, Berlin, 6. März 1857

36 Emilie Fontane an Theodor Fontane, Berlin, 20. Mai 1857

37 Emilie Fontane an Theodor Fontane, Neuhof, 21. Juli 1867

38 Theodor Fontane an Emilie Fontane, Berlin, 29. Nov. 1869

39 Emilie Fontane an Theodor Fontane, Berlin, 26. Juni 1857


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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