Eine Rezension von Waldtraut Lewin


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Der suchende Mensch

 

Marianne Fredriksson: Marcus und Eneides
Roman. Aus dem Schwedischen von Walburg Wohlleben.

Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M. 2000, 471 S.

 

 

Man ist in Rom, im Zeitalter des Kaisers Augustus. Marcus und Eneides sind Halbbrüder, der Sohn der Herrin ungeliebt, traurig, verschlossen, der Sohn der schönen Sklavin anmutig, heiter, liebenswert. Beide werden von der Mutter des Eneides, der Sklavin, bis zu deren grausamem Tod aufgezogen, und das Schicksal der ungleichen Geschwister zieht sich weiter durch das Buch. Aber eigentlich ist der Titel falsch, denn nicht Marcus und Eneides, sondern Marcus und Anjalis sind die Protagonisten der Geschichte. Anjalis, der schöne chaldäische Magier und Gottsucher, der bei der Erforschung fremder Religionen auch nach Rom kommt und vom verzweifelten Großvater des kleinen Marcus, dem großen General Scipio, gebeten wird, sich des verdüsterten Kindes anzunehmen. Denn seit dem Tod der Sklavin-Amme ist Marcus blind. In einem psychologischen Reinigungs- und Erziehungsprozeß heilt der Magier den Jungen zumindest äußerlich - ist aber auf die Dauer nicht in der Lage, dessen nächtlich verdüsterte Seele zu läutern. Auf der Suche nach einem anderen Kind, dem durch die Sterne verheißenen, das die Magier in Bethlehem anbeten, verläßt er Marcus und zieht sich damit den Liebeshaß des Knaben zu, der immer stärker zur Nacht- und Kehrseite des verheißenen Licht- und Gottkindes im Judenland wird. Schließlich trifft er Anjalis, der inzwischen zum Jesus-Jünger Johannes mutiert ist, in Jerusalem wieder und findet Erlösung im Tod unterm Kreuz Christi.

Das klingt verworren und ist es auch, aber es ist auf eine intelligente und kenntnisreiche Weise verworren und - bereits 1988 in Schweden erschienen - bedeutend anspruchsvoller als die triviale Maria Magdalena der Autorin, die in der Religion zur Schaumünze abgeflacht wurde. Hier, bei diesem Buch, muß ich der Autorin glauben, daß sie, wie bei Maria Magdalena im Klappentext behauptet, gründliche historische und religionsphilosophische Studien betrieben hat - die breitet sie ausführlich (und zum Teil schrecklich didaktisch) vor uns aus. Daß wieder einmal alle Weltweisheit aller Zeiten und Gegenden nur auf die Erlösung durchs Christentum zusteuert, mag befremden. Andererseits gelingen der Autorin teilweise interessante Völker-Porträts, wenn es um den Umgang beispielsweise der Griechen und im Gegensatz dazu der Römer mit ihren Göttern geht. Überhaupt ist ihre Darstellung der düsteren Weltmacht Rom sehr beeindruckend.

Aber das eigentliche Thema des Buches ist Marcus. Marcus, die verlorene Seele, das ungeliebte Kind in seiner abgrundtiefen Einsamkeit, seine Not, sein Hunger nach Zärtlichkeit und der irreparable Schaden, den der Liebesmangel in einem Menschen hinterläßt. Seine Zuwendung zu Anjalis, die in Haß umschlägt, als der ihn verläßt (verlassen muß), die immer stärker hervorbrechende Nachtseite seines Wesens, die Kälte gegenüber seiner Frau, die er nur vergewaltigen und beschimpfen kann, die Ablehnung seiner Kinder, schließlich, was er in Jerusalem dem vor Entsetzen fast versteinerten Anjalis-Johannes beichtet: die Folterung und brutalste Hinrichtung Tausender während seines Kommandos in Germanien. Marcus, der, verachtet zum Verächter werdend, als einzige unbelaste Bezugsperson seinen Halbbruder Eneides gelten läßt, dessen unauslöschlicher Selbsthaß schließlich nur noch ein Ziel kennt: endlich zu sterben.

Das ist ein beeindruckendes Psychogramm eines unglücklichen und deshalb Unglück verbreitenden Menschen, eines Menschen, der die Liebe entbehrt. Und mit diesem Thema packt Fredriksson im historischen Gewand ein Grundübel unserer Epoche an, bringt überzeugend zur Sprache, was mangelnde Solidarität, Liebesentzug dem Kind gegenüber und wachsende Vereinsamung für verheerende Folgen in den Seelen der Menschen anrichten. Ich halte das für das große und herausragende Verdienst des Buches.

Angemerkt sei auch, daß hier, wo die Autorin nicht wie in Maria Magdalena versucht, die Jesus-Geschichte pur nachzuerzählen, sondern das wundersame Kind, der große Heiler oder Sohn Gottes, immer nur als Randfigur oder in der Sicht der Protagonisten auftaucht, der Umgang mit dem Mythos weitaus erträglicher ausfällt als in obigem Roman.

Im übrigen weist auch Marcus und Eneides alle Grundschwächen und Grundvorzüge des Fredrikssonschen Erzählens auf: über weite Strecken unsinnliche Sprache, didaktische Passagen mehr als einem guttut, Gerede, hingetupfte Szenenbilder mit Kommentaren, wo uns das poetische Detail weitergeholfen hätte - und dann auf einmal der große Moment, die Direktheit und Schönheit einer Situation, die neue Sicht auf altbekannte Verhaltensweisen. Immerhin, unter all den Erfolgsautorinnen, die nicht schreiben können, ist sie eine der intelligentesten und damit erträglichsten.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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