Eine Rezension von Gabriele Brang


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Meine Reiselust

 

Theodor Fontane: Wie man in Berlin so lebt
Beobachtungen und Betrachtungen aus der Hauptstadt.
Herausgegeben von Gotthard Erler.

Aufbau-Verlag, Berlin 2000, 224 S.

 

 

„Auf, hinaus in die weite Welt“,
Drauf war mir ehedem der Sinn gestellt,
Mehr als Weisheit aller Weisen
Galt mir reisen, reisen, reisen ...

Es klingt nicht nur nach einem Geständnis, was Fontane am Ende eines an Kilometern „wanderreichen“ Lebens in „Meine Reiselust (früher und jetzt)“ über sich sagt. Denn als dieses Gedicht 1895, drei Jahre vor seinem Tode, entstand, trugen ihn die Schritte „höchstens noch bis Königin Luise“ bevor er, „zuletzt vorbei an der Bismarckpforte“, heimkehrte zu seiner „alten Dreitreppen-Klause“ in der Potsdamer Straße 134 c, um mit letzter Kraft deren 75 Stufen zu erklimmen.

„Ich flaniere gern in den Berliner Straßen, meist ohne Ziel und Zweck ...“, offenbart uns der „Wandersmann in Sachen Poesie“ seine unstillbare Leidenschaft in der Erzählung „Auf der Suche. Spaziergang am Berliner Kanal“. „Aber zuzeiten erfaßt mich doch auch ein Studienhang und läßt mich nach allem möglichen Alten und Neuen, was über die Stadt hin verstreut liegt, auf Inspektion ... gehen.“ Frei nach dem Motto: Wer läuft, sieht mehr. Schließlich war der alte Herr bis an sein Lebensende gut zu Fuß, und was er auf den Berliner Inspektionsgängen entdeckte und in anschaulichen, für ihre Detailgenauigkeit berühmten Schilderungen an die Leser weitergab, ist mittlerweile Weltliteratur. Was wiederum den Herausgeber und hervorragenden Fontane-Kenner, Gotthard Erler, jetzt veranlaßte, diese in Auszügen für vorliegenden Band auszuwählen und damit einen historischen wie literarischen Berlin-Führer des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu kreieren, der seinesgleichen sucht. Eine wohldurchdachte Aufteilung in drei große Abschnitte, „Berlin und die Berliner“, „Berliner Topographie“ und „Fontane als Berliner“, machen es allen Nicht-Berlinern (sowie geborenen Berlinern, von denen behauptet wird, daß sie ihre Stadt am schlechtesten kennen) einfacher, sich dem charmanten Flaneur anzuschließen, ohne Sorge haben zu müssen, die Orientierung zu verlieren. Interessant und gleichsam hilfreich sind auch die vielfach an das jeweilige Textende, zusätzlich zur Quellenangabe, gesetzten Erklärungen des Herausgebers, die zu einem besseren Verständnis des historischen Kontexts beitragen.

Wahrscheinlich haben wir es der schon in jungen Jahren erwachten Lauf- und Entdeckungslust Fontanes zu verdanken, daß dieser im märkischen Neuruppin geborene Hugenottennachfahre in seinen Werken ein Berlin-Bild geschaffen hat, das auf uns heute noch so lebendig und vertraut wirkt, wie es ihm einst war. Statt nämlich von des Onkels Sommerwohnung aus, die sich vor dem Oranienburger Tore befand, schnurstraks in die Klödensche Gewerbeschule, Niederwallstraße 12, zu marschieren, verbrachte der sechzehnjährige Henri Théodore des öfteren seine Vormittage im Grunewald oder der Jungfernheide beim Botanisieren, um nachmittags in der Konditorei Anthieny, Alte Schönhauser 30, die neuesten Journale zu lesen. Später wird er, „aller Unrechtserkenntnis zum Trotz“, seine Freude darüber ausdrücken, „der Schule dies Schnippchen geschlagen und meine ,Wanderungen durch die Mark‘ lange vor ihrem legitimen Beginn schon damals begonnen zu haben“. Bis zu deren Verwirklichung sollten aber noch etliche Jahre vergehen, bevor aus dem bereits bei seinem Englandaufenthalt gefaßten Plan, Material zu einem Buch über die Mark Brandenburg zu sammeln, der erste Wanderaufsatz entstand, der dann unter dem Titel „Ein Stündchen vorm Potsdamer Tor“ in der „Vossischen Zeitung“ erschien. Fontane selbst sah sich eher als Spaziergänger und hätte sein mehrbändiges Werk auch lieber so benannt. Liest man indes im vorliegenden Buch von den Strapazen, die der Autor unter damaligen Gegebenheiten für solch eine Erkundungstour auf sich nehmen mußte, ist das kernigere Wort „Wandern“ angebrachter.

Immer fürbaß, immer, sommers wie winters, ein Wollplaid über die Schulter oder einen großen Schal um den Hals, aus Angst vor einem grippalen Infekt, so ging er tagtäglich aus, „schnoperte etwas Lindenluft“ und sammelte Eindrücke. Literarischen Stoff für Reminiszenzen an eine Stadt, die er liebte und derer er manches Mal überdrüssig war. Uns Lesern gibt Fontane Gelegenheit, ihm zu folgen, in seinen Romanen, Erzählungen, den autobiographischen Schriften, Aufsätzen, Gedichten, die hier in Auswahl stellvertretend stehen für das, wovon er einmal als ein „von dem mit Bureaus und Kasernen reich ausgestatteten Dorf großen Stils“ gesprochen hat - seinem Berlin. Begleiten wir ihn also: treppauf, treppab, in prächtige Herrschaftshäuser oder die Stuben der kleinen Leute, mit ihrem typischen Geruch nach gekochtem Kohl und Bohnerwachs, in Cafés und Theater, auf nächtliche Touren durch Berliner Lokalitäten; denn zum Besten, was Fontane geschaffen hat, gehören seine Interieurs aus dem Berliner Leben. Die eigenen nicht ausgeschlossen, obwohl er da öfter über eine „Mauseloch-Existenz“ klagte und sich ernsthaft mit dem Gedanken eines Hausbaues trug, „in dem man nur selber wohnt“. Aber die finanziellen Verhältnisse, die waren nicht so! Nachzulesen in dem als Anhang beigefügten Aufsatz von Hans-Werner Klünner, „Fontanes Berliner Wohnstätten“, aus dem hervorgeht, daß der Dichter mit seiner Familie wahrhaftig in bescheidenen Wohnverhältnissen lebte, leben mußte. Trotzdem schien es ihm kein Grund, daran zu verzweifeln. Seine persönlichen Erlebnisse in, um und mit dieser Stadt, wie er sie mit Esprit zu schildern vermochte, können als Beweis dafür gelten. In ihrer Art sind sie einmalig, und nicht zu Unrecht gilt Fontane bis heute als der bedeutendste Berlin-Romancier.

Wie man in Berlin so lebt gibt einen kleinen, dafür breitgefächerten Einblick in Fontanes Berliner Welt. In die Welt eines Mannes, der, wie es Alfred Kerr ausdrückte, sich „im zarten Alter von sechzig Jahren, entschloß, ein naturalistischer Dichter zu werden; der sich hinsetzte und in ,Irrungen und Wirrungen‘ flugs den besten Berliner Roman schrieb ...“

Und am Ende macht das Buch ganz einfach Lust. Lust aufs Flanieren, Lust auf mehr Fontane.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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