Eine Rezension von Gudrun Schmidt


Zerstörtes Leben

Slavenka Drakulic: Als gäbe es mich nicht

Roman. Aus dem Kroatischen von Astrid Philippsen.
Aufbau-Verlag, Berlin 1999, 207 S.

 

An einem Februartag des Jahres 1993 wird in einem Stockholmer Krankenhaus ein Junge geboren. Anders als die Neugeborenen auf dieser Station ist er nicht mit Freude erwartet worden, hat keine Heimat und keine Sicherheit. Statt e i n e s Vaters kommen viele in Frage. Seine Mutter, eine junge muslimische Lehrerin, ist in einem serbischen Frauenkonzentrationslager brutal wieder und immer wieder vergewaltigt worden. Da es für eine Abtreibung zu spät war, hat sie sich vor der Geburt entschlossen, das Kind zur Adoption freizugeben. In der Abgeschiedenheit des Krankenhauses holen sie die schrecklichen Erlebnisse der zurückliegenden Monate wieder ein: die Schläge und Folterungen, der Hunger und Schmerz, die Erniedrigung, das Ausgeliefertsein, die Allgegenwart des Todes. Bilder, denen sie auch im schwedischen Asyl nicht entfliehen kann.

Ursprünglich hatte die Autorin Slavenka Drakulic, eine international bekannte Journalistin und Autorin der Romane Marmorhaut und Das Liebesopfer, eine Dokumentation über im Balkankrieg vergewaltigte Frauen beabsichtigt. Bei ihren Recherchen in Flüchtlingslagern erlebte sie das stumme Leid, das Schweigen der kriegstraumatisierten Frauen. Ihnen, so Slavenka Drakulic, will sie mit diesem Buch „eine Stimme geben“. Die Form des Romans erschien ihr dafür am ehesten geeignet, das Unbegreifliche, Unsagbare faßbar zu machen. Da die erzählte Geschichte auf umfangreichen Studien, Aufzeichnungen und Fakten beruht, wirkt sie authentisch. Dem Dokumentarischen dient, daß die Autorin Buchstaben statt Namen verwendet. Das Schicksal der jungen Muslimin S. steht somit verallgemeinernd für viele Einzelschicksale, für das unermeßliche Leid, das den Frauen im Krieg zugefügt wurde.

Als Vertretung für eine Kollegin war die junge Lehrerin S. aus der Stadt in das bosnische Bergdorf B. gekommen. Abrupt bricht in die Normalität des Alltags der Krieg, als bewaffnete Männer eines Morgens in das Dorf einfallen, die Frauen in einem Autobus zusammenpferchen und wegbringen. „An einem einzigen Tag wurden wir alle auf ein Mindestmaß zurückgeführt, auf das bloße Dasein.“ Die junge Frau fühlt, „mit diesem Autobus übersiedelt sie von einer Wirklichkeit in eine andere, von einer Zeit in eine andere. Bisher verständliche Dinge werden plötzlich unbegreiflich, das Eigene wird fremd, und es ist, als gäbe es sie nicht mehr ...“

Dieses „... als gäbe es mich nicht“ wird zur Lebens- und Überlebensstrategie in der Lagerwirklichkeit. Nur so kann sie das Grauen überstehen. Leitmotivisch kehrt dieser Gedanke immer wieder, sie will vergessen, wo sie sich befindet. „Sie muß in sich eine Kammer finden, in der sie das Bewußtsein von sich verliert, davon, wo sie ist und was sie ist. Etwas wie der Tod, der kein Tod ist, sondern nur eine zeitweise Abwesenheit.“

Im Verwaltungsgebäude des Lagers gibt es ein Zimmer, den sogenannten „Frauenraum“. Dahin kommen nur die jungen hübschen Mädchen und Frauen. Die Fenster sind mit Brettern vernagelt, die Tür verschlossen. Nachts fallen die Soldaten aus den Bergen ein. Betrunken, schmutzig, unberechenbar. An den Schritten auf dem Korridor erkennen die Frauen, wie viele es sind. Manche Frauen kehren morgens nicht zurück. Jede weiß: Wegbleiben bedeutet Tod!

Differenziert und mit großem Einfühlungsvermögen beschreibt Slavenka Drakulic das Grauen im Lager, wo Glück für die Insassen nur „der Augenblick der Erholung zwischen zwei Abscheulichkeiten“ ist. Mütter müssen mit ansehen, wie ihre halbwüchsigen Töchter geschändet und danach erschossen werden, Väter werden zu sexuellen Handlungen an ihren minderjährigen Söhnen gezwungen. Tagelang liegt der Geruch von im Müllcontainer verbrannten Leichen über dem Lager. Ein aufwühlendes, erschütterndes Buch, das man nicht hintereinander lesen kann. Unvorstellbar, was Menschen einander antun können. Die Autorin führt die Leser an die Schmerzgrenze. Aber diese Grausamkeiten müssen genannt werden, um das Ausmaß des Verbrechens und die Folgen zu begreifen.

Slavenka Drakulic beläßt es nicht dabei, das Grauen zu schildern. Sensibel spürt sie auch dem Verhalten der einzelnen nach, das die Lagererlebnisse in ihnen hervorrufen: Da gibt es die kleinen Diebstähle, das Schwinden der Solidarität, den Verlust der eigenen Würde durch ständige Erniedrigung. Wunsch nach Rache kommt auf. „Wenn du zweifelst, ob du selber fähig bist, das gleiche zu tun, dann ist es schon zu spät. Denn dann hast du bereits unbemerkt den ersten Schritt auf die andere Seite getan, zu denen hin“, bekennt die junge Lehrerin S. Nach einem qualvollen Prozeß deutet sich am Ende die Annahme des Kindes an. Für S. ist es ein Sieg über sich selbst.

Wir haben seinerzeit von den Greueln durch die Zeitung oder das Fernsehen erfahren. Von Verbrechen, die die Vorstellungskraft übersteigen und wofür sich kaum Worte finden. Wir waren entsetzt, betroffen, aber unseren Alltag hat das nicht verändert. Nach EU-Angaben sind im Bosnien-Krieg schätzungsweise 20 000 Frauen vergewaltigt worden. Die bosnische Regierung spricht von 50 000 Frauen. Vergewaltigungen hat es in Kriegen immer gegeben, sie sind Kriegsverbrechen und werden als solche geahndet. Neu in diesem Balkankrieg war jedoch, daß Vergewaltigungen bewußt geplant waren als Teil der ethnischen Säuberung. Wenn nun einige der Täter vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag zur Verantwortung gezogen werden, wird damit ein Zipfel Gerechtigkeit hergestellt, ungeschehen und wiedergutzumachen ist das Leid nicht, das den Frauen geschah und ihr Leben zerstört hat.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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