Eine Rezension von Hans-Rainer John


Zeitreise in die Vergangenheit

Michael Crichton: Timeline
Eine Reise in die Mitte der Zeit.
Roman. Aus dem Amerikanischen von Klaus Berr.

Karl Blessing Verlag, München 2000, 576 S.

 

Die Idee der Zeitmaschine, das heißt eines Apparates, mit Hilfe dessen man Menschen aus der Gegenwart herauskatapultieren und in ein anderes Zeitalter transportieren kann, inspirierte auch Wladimir Majakowski. Er kreierte seine Maschine in den zwanziger Jahren, um seine Zuschauer geistig aus der miefigen Zeit der NÖP, der sowjetischen Neuen Ökonomischen Politik, herauszuholen und sie über ihre Alltagsmisere hinwegzutrösten durch Konfrontation mit der lichten Zukunft einer klassenlosen Gesellschaft, in der nur Milch und Honig fließen. Seine Zeitmaschine, an deren technische Konstruktion er keinen einzigen Gedanken verschwendete (es war ja nur eine poetische Fiktion), versetzte sein Personal also um einige Jahrzehnte vorwärts in eine völlig veränderte Welt. Crichton greift die Idee auf, benutzt die Zeitmaschine aber, um in die Vergangenheit zurückzugehen, die seiner Ansicht nach von größter Bedeutung für die Gegenwart ist. („Die Gegenwart ist ... aufgebaut aus Abermillionen von Ereignissen und Entscheidungen der Vergangenheit. Was wir in der Gegenwart hinzufügen, ist trivial.“) Und er befaßt sich natürlich technologisch mit ihr. Das halbe Buch handelt ganz ernsthaft und mit fast wissenschaftlichem Duktus davon, wie sie mit Hilfe der Quantenteleportation funktioniert. Crichton hat sich natürlich in der Wissenschaft sachkundig gemacht, ist aber nur auf Spekulationen gestoßen. Er greift sie auf, amüsiert damit den Leser, weiß aber natürlich, daß Zeitreisen eindeutig ins Reich der Phantasie gehören.

Worum geht es? In Frankreich, im Tal der Dordogne, leitet der amerikanische Geschichtsprofessor Johnston Ausgrabungen. Einer Episode aus dem Hundertjährigen Krieg soll nachgeforscht werden. Da nähren bestimmte Umstände plötzlich Johnstons Verdacht, sein Mäzen, die High-Tech-Firma ITC mit Präsident Doniger an der Spitze, könnte nicht so ganz selbstlos handeln, wie er es erscheinen lassen möchte. Johnston fliegt in die USA zurück, zwingt seine Geldgeber zuzugeben, daß sie eine Zeitmaschine entwickelt und bereits ausprobiert haben. Nun will auch er in die Vergangenheit reisen. Er erlebt das Dordogne-Tal im Jahre 1357, aber ein Zwischenfall verwehrt ihm die Rückkehr in die Gegenwart. Doniger alarmiert Johnstons Team und schickt den Dozenten André Marek, den Doktoranden Chris Hughes und die sportliche Kate Erickson dem Professor zur Hilfe hinterher.

Das Trio hat 37 Stunden Zeit, dann muß es den Professor gefunden haben und die Rückreise antreten. Es gerät in die blutigen Auseinandersetzungen zwischen Lord Oliver auf der einen und dem Erzpriester Arnaut de Cervole auf der anderen Seite, die auf Leben und Tod um den Besitz der Festungen La Roque und Castelgard, um eine Mühle und ein Kloster streiten. Sie erleben die haarsträubendsten Abenteuer, geraten immer wieder in die greulichsten Gefahren. Sie müssen sich bewähren, ihre Kräfte und Fähigkeiten entwickeln. Bei André geht das schneller, bei Chris langsamer, für Kate sind Erfahrungen als Extremsportlerin hilfreich, am Ende können alle mit Schwert und Messer umgehen und ohne Zögern und Skrupel anderen Menschen Haupt und Glieder abschlagen. (Motto: Wer nicht frißt, der wird gefressen.) Natürlich treffen sie auch auf ihren Professor, der sich als Experte fürs Mittelalter recht gut gehauptet, aber am Ende wird es doch ein Kampf um jede Minute, weil sich immer neue Schwierigkeiten auftürmen ...

Auch in der Gegenwart tobt der Kampf um jede Minute, denn eine Katastrophe hat die Basis-Station der Zeitmaschine zerstört. Sie muß neu errichtet werden und nach genau 37 Stunden einsatzbereit sein. Dazu bedarf es immer neuer technischer Einfälle, bei denen sich ein anderer Mitarbeiter Johnstons, David Stern, höchst bewährt und bei denen die Vizepräsidenten von ITC, Gordon und Kramer, kooperieren. Nur Doniger scheut jedes Risiko, das seine Absicht gefährdet, die Vergangenheitsreisen zu vermarkten und Milliardenumsätze zu erzielen. Soll doch die Crew lieber auf ewig im Mittelalter bleiben ... Für diese Haltung wird er schließlich gewaltsam ins Jahr 1348 zurückgebeamt, wo im Dordogne-Tal die Pest wütete - ein unumstößliches Todesurteil fürwahr.

Das alles ist, wie immer bei Crichton, gut und flüssig geschrieben, Spannungsmomente sind im Übermaß gesetzt, wie man sieht, an Unwahrscheinlichkeiten, Abenteuerlichkeiten und Übertreibungen fehlt es nicht, eine Aktion treibt die andere an, da gibt es keine Verschnaufpause. Die Charaktere aber sind nur oberflächlich skizziert. Die mittelalterlichen Ritter und Mönche, der Erzpriester und der Abt sind alle beschränkt, gewalttätig, grausam, besitzgierig, und wenn eine Figur mal interessant angelegt ist wie Lady Claire oder Robert de Kere (ein Opfer der ITC), dann werden alle darin liegenden Möglichkeiten durch vorzeitige Abwertung leichtfertig verschenkt. Daß sich André Marek buchstäblich in der Minute der Rückreise unerwartet entschließt, im Mittelalter zurückzubleiben, ist nicht nur überraschend, sondern in dieser Plötzlichkeit und Unmotiviertheit auch einfach unglaubhaft. Aufopferung zugunsten seiner Mitreisenden wäre ein Motiv gewesen, oder es hätte durch eine Beziehung zu Lady Claire vorgebaut werden können, doch leider wurde diese Dame vom Autor vorzeitig moralisch verheizt. Doniger verhält sich als Kapitalist nicht außergewöhnlich, ein bißchen zu zynisch ist er vielleicht, und natürlich fehlt ihm Verantworungsgefühl für seine Mitarbeiter. Wenn seine Vizes ihn dafür aber gleich dem Tode überantworten, so ist das zwar ein frommer Wunsch des Autors, der für seine antikapitalistische Gesinnung spricht, realistisch jedoch oder einigermaßen vorstellbar ist es keineswegs. Gordon und Kramer sind einfach zu oberflächlich angelegt und damit viel zu wenig moralische Instanz, um solche Entscheidung bewußt, überlegt und mit sittlichem Recht fällen und auch selbst umsetzen zu können.

Am meisten überrascht, daß Crichton (geboren 1942 in Chicago) das Mittelalter nur als dunkle, grausame Zeit darstellt, als eine Zeit der Statik und Rückständigkeit, der Beschränktheit, der religiösen Vorurteile und des massenhaften Abschlachtens. Dabei weiß er, daß sich das Verständnis des Mittelalters in den letzten fünfzig Jahren dramatisch verändert hat. Im Nachwort beschreibt er die Zeit sogar selbst als dynamisch, „als eine Zeit rasanter Entwicklungen, in der Wissen gesucht und geschätzt wurde, in der große Universitäten gegründet wurden und man das Lernen förderte, in der mit Begeisterung neue Techniken entwickelt und angewandt wurden, in der alle gesellschaftlichen Beziehungen im Fluß waren und in der das allgemeine Niveau der Gewalt oft weniger tödlich war als heute“.

Leider ist von solchen Erkenntnissen fast nichts in seine Handlung eingeflossen, leider erhärtet er mit dem historischen Teil des Romans sogar das hartnäckige Vorurteil vom rückständigen Mittelalter, das in der Renaissance geprägt worden war. Schwer vorstellbar, daß Crichton sogar soweit gehen wollte darzustellen, daß unsere heutige, wissenschaftliche Zeit keine Verbesserung sein mag gegenüber einer vorwissenschaftlichen Periode, wie es das Mittelalter war.

Trotzdem wird auch dieses Buch Crichtons - wie Jurassic Park, Vergessene Welt, Enthüllung, Airframe und andere - ein Bestseller werden und seine Verfilmung erleben. Die eigenartige Mischung von Spannung und Unterhaltung, von Abenteuer und wissenschaftlicher Spekulation ist einfach zu unwiderstehlich. Der Verlag hat zudem alles daran gesetzt, das Buch in guter Übersetzung und exzellenter Ausstattung auf den Markt zu bringen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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