Eine Rezension von Bernd Heimberger


Blätter am Baum

Inger Christensen: Der Geheimniszustand und Gedicht vom Tod

Aus dem Dänischen von Hanns Grössel.
Carl Hanser, München 2000, 135 S.

 

Ein Dichter, in einer anderen Sprache als der eigenen, ist ein halb entwurzelter Baum. Gelingt’s dem Baum, am anderen Standort einen gedeihlichen Stand zu sichern, ist dem Gärtner, sprich Übersetzer, für das pflegerische Umsetzen zu danken. Inger Christensen, die Dänin, hat mit ihrem deutschen Gärtner Glück. Hanns Grössel teilt mit der Dichterin Gedanken, Gefühle, den Sinn fürs Sprachliche und die Zugehörigkeit zu einer Generation, die ins Nachkriegseuropa hineinwachsen mußte. Grössel hat, nach vielen Gedichten, nun auch Essays der Dichterin übertragen, deren Thema vor allem Wort, Sprache, Gedicht sind. Aus der Essay-Sammlung ließe sich eine mehrseitige Sammlung mit Zitaten zum Gedicht zusammenstellen.

Festzustellen ist, daß Christensen, mit leichtem Lächeln, wiederholt dem Gedicht ihr Mißtrauen ausspricht. Es ist das Mißtrauen einer Liebenden, die sich sorgt, mißbraucht zu werden. Mißbraucht von der Sprache, deren Medium sie ist. Gesetzt der Fall, Sprache ist nicht ihr Medium. Eine eindeutige, endgültige Grenzüberschreitung scheint ohnehin nicht möglich. „Wenn ich Gedichte schreibe“, sagt die Dichterin, dann kann es mir einfallen, so zu tun, als schreibe nicht ich, sondern die Sprache selber.“ Gleichzeitig ist sie sicher, daß sie etwas „tun muß“, damit Sprache sich nicht selbst genug ist.

Inger Christensen vergleicht die Sprache-Schreib-Beziehung mit der Baum-Blätter-Beziehung. Die „Art der Bäume“ ist es, „Blätter zu treiben“. - Jedes „einzelne Gedicht so schreiben, als wäre es das erste Gedicht in der Welt“, und das im Schreiben vergessen, das ist für die Lyrikerin das erklärbare Mysterium des Dichtens. Das ist ihre Maxime. Die Direktheit und Deutlichkeit in der Dichtung der Dänin hat auch mit ihrer Angst vor der Direktheit und Deutlichkeit der Realität zu tun. Um von der Realität nicht nur beherrscht zu werden, um Realität zu beherrschen, begegnet die Realistin der Realität mit ihrem Wissen um und von der Realität. „Wir glauben soviel. Man soll aber nicht soviel glauben. Man soll wissen.“ Für sie ist das der höchste „Geheimniszustand“, in dem man sich befinden kann. Inger Christensens lyrisches Werk ist ein Werk voller Wissen-Wollen. Das Wissen-Wollen braucht alle Energien der Phantasie, um Wirklichkeit möglich zu machen. So eindeutig, einfach sich das anhört, so einfach, eindeutig ist gar nichts, sagt Christensen. Kann’s nicht sein, weil das Unlogische oft das Logische ist im Leben. Weil erst in der Verirrung der Ausweg gesucht wird. Weil der Ausweg möglicherweise Verwirrung stiftet. Wie in ihren Gedichten ist Inger Christensen in ihren gedankenreichen Essays eine Erklärerin, die Sympathisanten um sich scharrt. Ob sie will oder nicht!


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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