Wiedergelesen von Dorothea Körner


Theodor Fontane: Stine
Herausgegeben von Christine Hehle.
Aufbau-Verlag, Berlin 2000, 213 S.
(Theodor Fontane, Große Brandenburgische Ausgabe.
Hrsg. v. Gotthard Erler. Das Erzählerische Werk. Hrsg. in
Zusammenarbeit mit dem Theodor-Fontane-Archiv.
Editorische Betreuung Christine Hehle).

 

Mein Vergnügen an der Stine-Lektüre war diesmal vermutlich größer als beim ersten Lesen vor Jahren. Ein besonderer Reiz lag darin, daß ich nunmehr - nach dem Fall der Mauer - die Topographie des Romans in allen Einzelheiten nachvollziehen konnte. (Der dieser Ausgabe beigefügte zeitgenössische Stadtplan war dabei sehr hilfreich.) Aber auch Fontanes Dialoge, in denen er subtilste Seelenregungen ebenso wie galante Causerie, die künstlerischen und geschichtsphilosophischen Gespräche Gebildeter wie den Berliner Mutterwitz und die Alltagssprache einfacher Leute wiedergibt, zergehen einem auf der Zunge. Fontane hatte ein feines Gehör, und er wußte das auch. Es gibt übrigens in Stine Passagen, da glaubt man, der geliebten Umständlichkeit Thomas Manns zu begegnen. So etwa im Gespräch des alten Barons mit dem jungen Waldemar von Haldern, der diesem gerade seine Absicht mitgeteilt hat, die Heimarbeiterin Stine zu heiraten: „Im ersten Augenblick bekam ich einen Schreck, ich kann es nicht leugnen, und als ich nun gar noch einen Rat geben sollte, ja, das war mir ein bißchen zu viel. Aber das Diplomatische, das Offizielle, das liegt nun hinter uns und ich kann nun sprechen, wie mir der Schnabel gewachsen ist. Und da will ich Ihnen nun aufrichtig sagen, aber nur so ganz unter uns, Sie brauchen sich nicht auf mich zu berufen, ich freue mich immer, wenn einer die Courage hat, den ganzen Krimskrams zu durchbrechen. Es gilt auch von dieser Ebenbürtigkeitsregel, was von jeder Regel gilt, sie dauert so lange, bis der Ausnahmefall eintritt. Und Gott sei Dank, daß es Ausnahmefälle giebt. Es lebe der Ausnahmefall.“ - Womit wir beim Thema des kleinen Meisterwerks wären, der gewünschten, aber undurchführbaren Mesalliance des jungen Grafen von Haldern.

Der kränkliche junge Mann - er wurde als blutjunger Fähnrich im 70er Krieg lebensgefährlich verwundet, nahm daraufhin seinen Abschied und hielt sich längere Zeit als Kunst- und Bildungsreisender in Italien auf - hat in seiner Kindheit und Jugend wenig Wärme erfahren. Nun lernt er Stine kennen, ein stilles, in ihren bescheidenen Verhältnissen glückliches junges Mädchen, das ihn versteht und ihm in Liebe zugetan ist. Seine Pläne, auf sein Erbe zu verzichten und mit ihr nach Amerika auszuwandern, scheitern jedoch an Stines Widerstand. Sie ist Realistin genug, um die Undurchführbarkeit dieser Idee, die ihrer beider Unglück wäre, zu erkennen, und lehnt deshalb Waldemars Antrag ab. Auch Waldemars Onkel, der alte Graf von Haldern, Junggeselle, Kunstfreund und Berliner Lebemann, der mit Stines temperamentvoller Schwester Pauline Pittelkow ein festes Verhältnis hat, versucht die Ehe zu verhindern, ebenso Stines Schwester Pauline, die - analog den Halderns- ebenfalls ihren Stolz hat, wenn auch einen bürgerlichen. Waldemar, der die Verbindung mit Stine für seine letzte Chance hält, ein sinnvolles Leben zu führen, nimmt sich das Leben. Er bekommt auf dem Anwesen der Halderns ein standesgemäßes, prunkvolles Begräbnis - ohne eigentliche Trauer, während Stine von seinem Tod so tief getroffen wird, daß sie ihn möglicherweise nicht überlebt.

Fontane, dessen besondere Liebe dem vitaleren, die Konventionen nur halb und illegal überschreitenden „Paar“ gilt - der jungen Witwe Pauline Pittelkow und dem alten Grafen von Haldern -, hat in diesem Roman unvergeßliche Szenen geschaffen, so die kleine „Abendgesellschaft“ bei Pauline, auf der sich Waldemar und Stine kennenlernen, eine Parodie auf die Gesellschaften des Adels, wie man im Kommentar erfährt, wo Whist und Theater gespielt, rezitiert und gesungen, gespeist und getrunken wurde, die Gesänge immer lauter und die Avancen gegenüber den Damen immer gewagter wurden. Großartig ist auch die Beerdigung Waldemars auf dem märkischen Landsitz geschildert, die Ankunft der Berliner Prominenz auf dem Dorfbahnhof, die Eleganz der „trauernden“ Familie oder die kleine Szene, als der alte Graf Haldern auf der Rückfahrt zum Bahnhof an Stine vorbeifährt und sie galant, wenn auch mit einer kleinen Überwindung einlädt, in seiner Kutsche Platz zu nehmen.

Daß die Große Brandenburgische Ausgabe - die übrigens die Orthographie der Erstveröffentlichung beibehält - einen so ausführlichen Kommentarteil besitzt, für den Christine Hehle verantwortlich zeichnet, wird ihr der Leser danken. Er erfährt nicht nur etwas über Entstehung, Editionsgeschichte und Wirkung des Romans auf die Zeitgenossen, auch das Berlin von 1878 - das Jahr, in dem Fontane Stine angesiedelt hat - wird politisch, wirtschaftlich und soziologisch analysiert, so daß auch feinste Details im Roman verständlich werden. Hintergrund der Handlung ist ein Berlin, das von Siegesmentalität, wirtschaftlicher Prosperität, dem gesellschaftlichen Aufstieg des Großbürgertums und einem entstehenden Proletariat geprägt ist, dessen Stadtviertel diesseits und jenseits der Spree unterschiedlichen sozialen Welten angehören, deren Grenzen von den handelnden Personen des Romans ständig überschritten werden. Die Herausgeberin macht deutlich, wie bewußt Fontane die Berliner Topographie als Stilmittel eingesetzt hat. Ein Anhang mit ausführlicher Begriffserklärung trägt ebenfalls zum besseren Verständnis bei.

Daß Stine erst 1890 - neun Jahre nach der Fertigstellung - erschien, hing mit Fontanes schlechten Erfahrungen mit seinem Roman Irrungen, Wirrungen zusammen, der wegen einer ähnlichen Thematik einen Skandal ausgelöst hatte. „Bei Lichte besehen, ist es [Stine, D.K.] noch harmloser als Irrungen, Wirrungen, denn es kommt nicht einmal eine Landpartie mit Nachtquartier vor“, schrieb Fontane an den befreundeten Literatur- und Theaterkritiker der „Vossischen Zeitung“, Paul Schlenther. Dennoch wurde Stine noch 1888 von dem Chefredakteur der „Vossischen Zeitung“ abgelehnt. 1890 erschien der Roman in der Berliner Wochenzeitschrift „Deutschland“, kurz danach in Buchform im Verlag des Sohnes Friedrich Fontane. Die Kritik lobte das Werk als dem Naturalismus der jungen Dichter nahestehend, ihnen aber in seiner poetischen Gestaltung überlegen. Gegenüber der mehr berlintypischen Handlung von Irrungen, Wirrungen sahen manche Kritiker in Stine den Konflikt des Standesunterschieds ins allgemein Menschliche erhoben. An der konservativen Tendenz des Romans nahm Maximilian Harden Anstoß: „In Fontanes staatsgestützter Gesinnung steht es nun einmal fest: nur Gleich und Gleich gesellt sich zum Glück.“ Während der Rezensent der „Deutschen Literaturzeitung“ den Konflikt weit hellsichtiger beschrieb: „Der Roman contrastiert Adel und Kleinbürgertum. Er bekämpft die Standesvorurteile, aber er betont die Standesgrenzen. Denn diese liegen im Blut. Eine Auffrischung des Adelsblutes durch Bürgerblut erscheint freilich wünschenswert. Die Edelgeborenen raunen es sich gegenseitig in die Ohren. Aber im concreten Fall können sie über die Vorurteile nicht hinweg. Auch die Kleinbürgerlichen widerstreben ... Sie besitzen einen eigenen Standesstolz und verlangen keine Einmischung des Adeltums. Die Einen wie die Anderen sind aristokratisch, und dieser Aristokratismus bildet die unüberschreitbare Scheidegrenze.“ Dem ist einhundert Jahre später wenig hinzuzufügen. - Die Ausstattung der „Großen Brandenburgischen Ausgabe“ ist übrigens vorbildlich, besonders die Schutzumschläge sind ein ästhetischer Genuß.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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