Wiedergelesen von Monika Melchert


Joochen Laabs: Der Schattenfänger
Roman eines Irrtums.

Mitteldeutscher Verlag, Halle 1990, 344 S.
Steidl Verlag, Göttingen 2000, 415 S.

 

Ein Buch ist wiedererschienen, das vor genau zehn Jahren, im Frühjahr 1990, im Mitteldeutschen Verlag verlegt wurde, ein hochbrisantes Thema hatte - und dann in den Aufregungen der Wendezeit von der Öffentlichkeit so gut wie nicht zur Kenntnis genommen worden war. Allenthalben war man mit den sich überstürzenden tagespolitischen Umwälzungen, den Runden Tischen und neuen Medien befaßt, Bücher las die Mehrzahl der Bürger damals nicht. Nun gibt es, selten genug, die Chance, ein solches Buch neu zu lesen, mit dem Abstand all der Veränderungen, die unser Leben so gründlich umgestülpt haben. Und es zeigt sich, daß Der Schattenfänger eine Menge zu sagen hat gerade darüber, wie man in den letzten ein, zwei Jahrzehnten in der DDR gelebt hat, wenn man bleiben wollte, aber den Preis der Anpassung nicht zu zahlen bereit war, und wie es zu diesem jähen Ende gekommen ist.

Ein Ich-Erzähler mittleren Alters, gescheitert in der beruflichen Karriere ebenso wie in seiner Ehe, hat sich zurückgezogen in ein einsam gelegenes altes Haus, auf ein Dorf in Mecklenburg. Er, der zur sogenannten mittleren Generation gehörte, die mit großen Erwartungen und viel Energie ihren Berufsweg in den frühen sechziger Jahren angetreten hatte, ist nun, am Ende der Achtziger, in ein Desaster geraten, das sich herausstellt als ein persönliches, bedingt durch das gesellschaftliche. Einen langen heißen Sommertag über wartet der Mann auf den Besuch seiner Tochter, bereitet alles so vor, daß er ein gutes Bild von sich und seinem Häuschen vermitteln kann. Auf dieser Gegenwartsebene hat der Ich-Erzähler also Zeit genug, seine Vergangenheit in allen ihren Entwicklungsetappen zu reflektieren und sich Rechenschaft über seine gescheiterte Existenz zu geben. Am Ende kommt die Tochter dann gar nicht, aber das ist nur ein Indiz mehr für die Vergeblichkeit, in die der Protagonist sein Dasein eingezwängt sieht.

Joochen Laabs läßt seine Hauptfigur einen Weg gehen, der sie immer mehr in die Enge treibt. Der Ich-Erzähler arbeitete als Verkehrsingenieur in einem Planungsinstitut und geht mit einem Affront weg, als er Leiter werden soll unter der Bedingung, Mitglied der SED zu werden. Seine Weigerung wird motiviert aus der Erfahrung mit dem Anspruch absoluter Macht, mit undemokratischen, autoritären Entscheidungen, gegen die der einzelne auch mit den besseren Argumenten keine Chance hatte. „Man hat unserer Generation viel in Aussicht gestellt. Geworden ist längst nicht alles. Man hat an uns appelliert, wirklich machen allerdings ließ man uns kaum ...“ Diese Konsequenz in der Haltung, die hier absolut nachvollziehbar erscheint, führt jedoch im weiteren Verlauf seines Rückzugs immer tiefer in die Isolierung. Gleichzeitig ist der Protagonist ein „schreibender Ingenieur“, einer, der in seiner Freizeit zunächst in einer „Arbeitsgemeinschaft Junger Autoren“ zu schreiben beginnt, aber auch hier bald an ein für ihn unproduktives Ende gelangt: Dort nämlich wurde er fast mit Gewalt von seinem ursprünglichen eigenen Weg zur Literatur abgebracht und auf kulturpolitisch verordnete Themen, Stoffe und Methoden verpflichtet, wurden die Ansätze von künstlerischer Begabung also gründlich ausgetrieben. Nun, in seinem alten Haus, nach allen Trennungen, nachdem endlich auch sein Romandebüt - längst überholt von der Entwicklung - erschienen war, versucht der Ich-Erzähler, als freier Schriftsteller zu leben, mehr schlecht als recht. Sein knappes Geld verdient er schließlich mit ein paar Schlagertexten für den Rundfunk. Es ist ein typischer DDR-Weg: aus beruflichem Engagement und sozialer Sicherheit - über die verschiedenen Stufen von gesellschaftlicher Desillusionierung und persönlicher Enttäuschung - in die Nischenexistenz. Der Mann wählt das Einsiedlerdasein als Alternative zur abstumpfenden Anpassung, die er sich nicht antun wollte. Doch dabei unterläuft ihm ein fataler Fehlschlag: Von nun an will er sich in nichts mehr einmischen, seine persönliche Meinung keinem mehr mitteilen, auch nicht in dem Ort des Rückzugs, dem Dorf, wo ebenfalls in mancherlei Auseinandersetzung Stellung zu beziehen wäre. Er verweigert sich. Niemals mehr ergreift e r die Initiative zu etwas - er w i r d ergriffen, läßt sich in etwas verwickeln (mit dem Kauf des Hauses, bei Frauen usw.). Im Grunde will er nur noch in Ruhe gelassen werden. Was sich auftut, ist eine Sackgasse; ein Vakuum entsteht um ihn herum. Immer tiefer wird er ins Schweigen getrieben, so daß der Ich-Erzähler eigentlich nur noch mit sich selbst redet, auch romanstrukturell gesehen: ein Monolog. Den Untertitel des Buches darf man keinesfalls überlesen: „Roman eines Irrtums“. Hier ist einer dabei, seine Identität zu verlieren. Joochen Laabs weiß genau, wohin er seine Figur führt. Erzählerisch gibt es dafür sehr poetische Lösungen. Bisher nämlich hatte der Ich-Erzähler einen lebhaften Kontakt mit Gestalten aus Büchern seiner Lieblingsautoren, sie lebten in seiner Phantasie mit ihm, um ihn. Doch nun, an jenem Endpunkt, ziehen auch diese Freunde sich allmählich vor ihm zurück: „die E i n f l ü s t e r u n g e n der Welt bleiben aus. Die Stimmen, sie sind nicht verstummt, aber sie erreichen mich nicht mehr.“ Visionen, Angst- und Alpträume beherrschen ihn zunehmend. Zwar erscheint sein indianischer Freund Crazy Horse noch einmal, doch kritisiert er seine Lethargie, fordert ihn schließlich auf, wenigstens angesichts des großen Schreckensbildes seines brennenden Hauses doch noch zu kämpfen. Darüber hinaus gibt es großartig entworfene Szenen, die den erzählerischen Raum weiten über die nackte Gegenwart hinaus, so die Erfahrung, wie er als Kind beinahe ertrunken ist, der Traum vom Fliegenkönnen oder das sich durchziehende Motiv, den Schatten zu fangen. Peter Schlemihl aus Chamissos Märchenerzählung gehört zu seinen literarischen Gefährten. Ein Mensch aber, der seinen Schatten verloren hat, lebt ohne Seele, ohne sein Eigentliches. Als tradiertes literarisches Motiv ist der Mensch ohne Schatten nur ein Schemen, nicht Ganzes, Vollständiges mehr. Die Titelmetapher ist vielseitig interpretierbar, schließt den Verlust jedoch ebenso ein wie die potentielle Bereitschaft, nach diesem „Schatten“ weiter zu suchen.

Der Schattenfänger ist eine Bestandsaufnahme der Wegmarkierungen zum Herbst 1989. Er liefert ein Psychogramm der Entwicklung einer Figur und des Landes, in dem sie lebt. Vieles bekommt beim Wiederlesen nachträglich eine verblüffende symbolische Bedeutung. Das heruntergekommene alte Bauernhaus kann der Protagonist für dreitausend Mark kaufen, fast geschenkt. Aber was er hineinstecken muß, um die marode Substanz zu retten, mindestens immer wieder notdürftig aufzuputzen, übersteigt bei weitem seine materiellen Mittel. Er fühlt sich zutiefst überfordert, „umgeben von einem Gehäuse aus Verfall“. Laabs trägt die Symptome einer Krise zusammen, die am Ende nicht mit einem Neubeginn aufzulösen ist. Natürlich kommt einem dabei manches geradezu entlegen vor, die unsäglichen Debatten etwa über mangelnde Parteilichkeit und Klassenstandpunkt in der Literatur der sechziger Jahre.

Was der Ich-Erzähler auch tat, wofür er seine Kräfte auch einsetzte, es geht so aus, daß alles ihn ins Unrecht zu setzen scheint. Aber dieser falsche Schein ist das Symptom eines Zustandes, in dem die ganze Gesellschaft sich eingerichtet hatte: Je mehr diese verschlissen ist, desto starrer, ja sturer gibt sie sich und widersetzt sich Veränderungen. „Keiner ist groß genug“, denkt die Figur, „um mit dem Ende wirklich fertig zu werden.“

Übrigens zeigt sich heute, zehn Jahre danach, daß der Roman in manchem schlagenden Indiz nicht nur die Agonie der DDR beschreibt, sondern die der Zivilisationsgesellschaft insgesamt einbezieht, beispielsweise am unaufhaltsamen Vorrücken der Technik in naturbelassene Räume, in Wiesen- und Waldlandschaften, die unser aller Umwelt sind.

Geschrieben Ende der Achtziger, ist der Roman heute geeignet, ostdeutsche Erfahrungen und Identitäten noch einmal geschärft aus einer gewissen Distanz wahrzunehmen oder aber überhaupt etwas darüber zu erfahren - von einem, der aus der Innenperspektive erzählt, die von keiner noch so „objektiven“ Dokumentation zu erreichen ist. Günter Grass gab dem neuerscheinenden Roman diese Worte mit auf den Weg: „Der verlangsamte Blick auf das Innenleben eines mittlerweile verschwundenen Staates und seiner gebliebenen Landschaft ist und bleibt aktuell. Ein wunderbares Buch, das, während man es noch liest, zum Wiederlesen einlädt.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

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