Eine Rezension von Horst Wagner


Lebensspuren des Stasi-Chefs

Wilfriede Otto: Erich Mielke - Biographie
Aufstieg und Fall eines Tschekisten.

Karl Dietz Verlag Berlin, Berlin 2000, 736 S.

 

Warum ausgerechnet über Mielke eine solch dicke Biographie? Das mag sich mancher fragen, wenn er dieses Buch in die Hand nimmt. An mehr oder weniger umfangreiche Biographien oder Erinnerungen ehemaliger DDR-Größen hat man sich ja schon gewöhnt. Die des früheren Stasi-Chefs aber übertrifft sie alle. Und dazu auch noch eine Audio-CD mit Reden des Porträtierten. Soll hier etwa eine Art „Heldenverklärung“ betrieben werden? Nun, dem ist ganz und gar nicht so. Die CD trägt den Stempel der Gauck-Behörde und ist schon von daher eher zur Entlarvung als zur Verklärung bestimmt. Die Autorin, Wilfriede Otto, promovierte Historikerin, zu DDR-Zeiten Mitarbeiterin am Institut für Marxismus-Leninismus bzw. Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung, schildert ihren Zugang zu diesem Stoff so: „Meinen Weg zu Erich Mielke wiesen in der Zeit des Umbruchs 1989 jene Menschen, die unter sehr unterschiedlichen Bedingungen - vom Stalinschen Gulag und Terror über ein sowjetisches Militärtribunal bis hin zu einem politisch motivierten Urteil in der DDR - schweres Unrecht erfahren hatten.“ Dabei sei es ihr immer um die „Suche nach dem wirklichen Bild dieses Mannes entgegen den verbreiteten Tendenzen einer rein emotionalen Verurteilung“ gegangen.

Herausgekommen ist - das war bei diesem Thema und der Quellenlage wahrscheinlich nicht anders möglich - weniger eine persönliche Biographie, ein Charakter- und Lebensbild Mielkes, sondern mehr ein Geschichtsbuch über die Stalinisierung von KPD und SED, über den Repressionsapparat der DDR und die besonders verschärfende Rolle, die Mielke in diesem Rahmen gespielt hat. Der „private Mensch“ Mielke kommt eigentlich nur im Kapitel über die Jugendzeit, als der Arbeitersohn vom Roten Wedding auch zwei Jahre das Köllnische Gymnasium besuchte, zum Vorschein, und in ein paar Episoden aus seinen „Rentnerjahren“, in Fotos als Fußballfan und als Stimmungsmacher auf Festbällen oder (auf der CD) bei lustigen Sprüchen auf einem offenbar wodkaträchtigen Treffen mit KGB-Chef Andropow zum Vorschein. Ansonsten verschwindet er fast hinter der Fülle von Beschlüssen und Richtlinien, Dienstanweisungen und anderen Dokumenten. Muß man einerseits der Autorin gründlichste Recherche und solide Arbeit mit historischen Fakten bescheinigen, so wirkt andererseits die Fülle des Gebotenen und die für meinen Geschmack zu geringe Differenzierung von Wesentlichem und vielleicht weniger Wichtigem streckenweise auch ermüdend.

Im Bestreben, Spekulationen zu vermeiden, auf nicht belegbare Vermutungen zu verzichten, hält sich Wilfriede Otto hinsichtlich persönlicher Motive und Reflexionen Mielkes sehr zurück. Darüber erfährt man z. B. im Zusammenhang mit der gleich im ersten Kapitel behandelten „Bülowplatz-Aktion“, der Erschießung der Polizeibeamten Lenck und Anlauf im „Schicksalsjahr 1931“, wegen der Mielke 62 Jahre später verurteilt wurde, so gut wie gar nichts. Dafür werden ausführlich und interessant die den Hintergrund bildenden Auseinandersetzungen in der KPD-Führung behandelt. Relativ detailliert, auch was das Alltagsleben betrifft, werden Mielkes Moskauer Jahre, der Besuch der Militärpolitischen und der Komintern-Hochschule zur Zeit der Moskauer Prozesse geschildert. Wobei die Autorin zu dem Schluß kommt: „Zweifelsohne wurden Mielkes politische und ideologische Haltung sowie sein Charakter nachhaltig davon beeinflußt. Jesuitische Glaubenstreue und der Grundsatz ,Der Zweck heiligt die Mittel‘ wurden - politisch-ideologisch verklärt - zu seiner Lebensmaxime.“ In dem Kapitel über Mielkes Wirken in Spanien muß sich die Autorin hauptsächlich auf mehr oder weniger subjektiv gefärbte Aussagen anderer Spanienkämpfer beschränken. Sie geht hier auch auf die immer wieder gehörte „Vermutung“ ein, Mielke habe dort im Auftrag des NKWD an Folterung und Erschießung von „Anarchisten“ teilgenommen, wofür es aber keine Beweise gebe und was sie für unwahrscheinlich hält. Im anschließenden Abschnitt „In Frankreich und Belgien“ setzt sie sich mit Behauptungen, Mielke habe Mitschuld am Tod von Willi Münzenberg, ebenso auseinander wie mit der zu späteren DDR-Zeiten gestrickten Legende, er sei aus Spanien in die Sowjetunion zurückgekehrt und habe in der Roten Armee gegen den Faschismus gekämpft.

Für die Zeit nach 1945 kann sich die Historikerin Otto natürlich auf umfangreiches Material aus der Gauck-Behörde sowie aus dem in die „Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der ehemaligen DDR“ eingegangenen SED-Parteiarchiv stützen. Wobei sie zu Recht bedauert, daß die Akten der „Gegenseite“, zum Beispiel des Bundesnachrichtendienstes, aber auch die des KGB, ganz oder weitestgehend verschlossen bleiben. Nicht jeder wird wissen, daß Mielkes Karriere in den ostdeutschen Sicherheitsorganen schon im Juli 1945 begann, als er Polizeiinspektor von Berlin-Lichtenberg wurde. Sie führte ihn über die Funktion eines Vizepräsidenten der Deutschen Verwaltung des Innern 1946, dem Chefposten der als MfS-Vorläufer im Mai 1949 gebildeten Hauptverwaltung zum Schutz der Volkswirtschaft zunächst auf Platz zwei (unter Zaisser und Wollweber) und dann 1957 ganz an die Spitze der (übrigens von Mielke zuweilen selbst so genannten) „Stasi“. Besonders belastend bzw. empörend - viel mehr als alle häufig zitierten IM-Instruktionen oder Anweisungen zu „operativen Vorgängen“ - finde ich die hier detailreich geschilderte Rolle Mielkes bei der Verleumdung, Verfolgung und zum Teil mit dem Tod endenden Drangsalierung der eigenen Genossen Anfang der 50er Jahre, wie des stellvertretenden KPD-Vorsitzenden Kurt Müller, des leitenden DDR-Journalisten Bruno Goldhammer, des Spanienkämpfers und ersten Reichsbahnpräsidenten der DDR Willi Kreikemeyer oder des Politbüromitglieds Paul Merker.

Nachdem man zuweilen befürchten mußte, in der Fülle des Materials über die mehr und mehr nicht nur zur Hypertrophie, sondern auch zur Routine neigende MfS-Arbeit der 70er und anfänglichen 80er Jahre zu ertrinken, liest man doch mit einiger Spannung, wie Mielke offenbar früher und realistischer als Honecker die in der DDR heranreifende Krise gespürt hat, wie er sich rechtzeitig, natürlich im Interesse eigenen Machterhalts, auf die Seite der „Re former“ um Krenz und Herger geschlagen hat. Mit Interesse liest man davon, wie eine Perestroika-Stimmung schon ab 1988 auch unter den Mitarbeitern des MfS Raum griff, was sicher dazu beitrug, daß es, wie Wilfriede Otto einen Mitarbeiter zitiert, „Initiativen aus der Staatssicherheit, die revolutionäre Wende in der DDR abzuwenden, kaum gegeben“ hat. Hinsichtlich der beschämenden „Ich liebe euch doch alle“-Rede des 82jährigen Mielke in der Volkskammer am 15. November 1989 bemerkt die Autorin, daß er zwar „aus seiner Vorstellungswelt heraus Wahres vorbringen wollte“. Aber: „Das Wichtigste - seine eigene Verantwortung und die tatsächliche Rolle des Ministeriums - blieben verdrängt.“

Beeindruckend hinsichtlich Umfang und Gründlichkeit ist der über 200 Seiten umfassende „Anhang“ des Buches. Er enthält 65 zum Teil mehrseitige Dokumente aus der Zeit von 1936 bis 1997 sowie ausführliche Quellen-, Personen- und Abkürzungsverzeichnisse. Außerdem eine Liste der Museen und Gedenkstätten zur Geschichte des MfS. Die zahlreichen Fotos zeigen Geburtshaus, Bildungs- und Wirkungsstätten Mielkes, vor allem natürlich den Stasi-Minister in allen möglichen Situationen: von der Auszeichnung mit höchsten Orden über allerlei offizielle Begegnungen und dienstliche Handlungen bis zu Jagd-, Ball- und Backszenen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

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