Eine Rezension von Joachim Liebig


Theater als Therapie?

Augusto Boal: Der Regenbogen der Wünsche
Methoden aus Theater und Therapie.
Aus dem Englischen von Christa Holtei.
Herausgegeben und bearbeitet von Jürgen Weintz.

Kallmeyersche Verlagsbuchhandlung, Seelze (Velber) 1999, 168 S.

 

Die Zeiten ändern sich. In den siebziger Jahren wollte der brasilianische Theatermacher Augusto Boal mit seinem Volkstheater noch die Gesellschaft befreien. Das war angesichts der Unterdrückung und Ermordung politisch Andersdenkender in vielen lateinamerikanischen Staaten ein mehr als legitimes Ziel. Boal selbst wurde 1971 verhaftet und gefoltert. In dem 1976 von Boal auf deutsch veröffentlichten Werk Theater der Unterdrückten heißt es denn auch: „Schluß mit einem Theater, das die Realität nur interpretiert; es ist an der Zeit, sie zu verändern.“ Dies wollte Boal dadurch erreichen, daß er die traditionelle Schauspieler-Publikum-Beziehung aufbricht und den passiven Zuschauer dazu bringt, seine - bessere - Version der Stückhandlung an Stelle des Protagonisten unmittelbar auf der Bühne vorzustellen. Daraus wurde ein neues Volkstheaterkonzept: Die Unterdrückten sollten zunächst einmal im Theater zu Handelnden werden, um später die Realität zu ändern.

Nun ist der alte Theatro-Marxist Augusto Boal, der 1931 in Rio de Janeiro geboren wurde und Theaterzentren in Rio und Paris betreibt, doch etwas kleinlauter geworden. In seinem jetzt auf deutsch erschienenen Buch Der Regenbogen der Wünsche stellt er seine Erfahrungen aus unzähligen Workshops und Seminaren auf der ganzen Welt vor. Ihm geht es nicht mehr um die Befreiung der Gesellschaft, nein, jetzt dreht sich alles ums Individuum, das - natürlich mit den Methoden des Theaters der Unterdrückten - befreit werden muß. Angesichts der Globalisierung und eines sich zunehmend ungezügelt ausbreitenden Kapitalismus ist dies sicher legitim, vielleicht auch die einzige Chance, überhaupt noch etwas zu ändern. Aus der Befreiung verelendeter Bauern in der Dritten Welt ist die „Behandlung“ psychischer Probleme aufgeklärter Menschen in industrialisierten und anderen Ländern geworden. Als da wären: Einsamkeitsgefühle, Kommunikationsstörungen, Gefühle der Leere, Partnerprobleme ... Vom Theatermacher zum Therapeuten, so kann’s kommen. Das Buch ist gegliedert in zwei Abschnitte, einen Theorie- und einen Praxisteil. Ersterer ist eine informative Grundlegung des Boalschen Welt- und Theaterverständnisses und behandelt Fragen wie „Was ist der Mensch?“ oder „Was ist der Schauspieler?“. Immer wieder betont der brasilianische Regisseur, daß im Gegensatz zu anderen Theateransätzen das Theater der Unterdrückten in der Lage sei, den Zuschauer aus seiner passiven Haltung zu befreien und Bewußtsein sowie Verhalten von Menschen zu ändern. Dies Verständnis ist arrogant und überheblich, weil sie die eigene Auffassung quasi als Heilslehre verkündet. Über die ganze Wucht und das das politische Bewußtsein bildende Potential von traditionellem Theater hat unlängst der Schauspieler Martin Wuttke, der die Titelrolle in Brechts „Arturo Ui“ spielt, in der Presse berichtet. Mit dieser Inszenierung des verstorbenen Heiner Müller war das Berliner Ensemble vor kurzem in Lateinamerika (!) auf Gastspieltournee, und die auch politischen Reaktionen der Zuschauer waren so heftig, wie es Wuttke noch nie vorher erlebt hat (vgl. „Theater der Zeit“ 2/2000).

Boal wähnt das zündende Moment seiner Konzeption in der befreienden Wirkung des Spiels, wie er es im Praxisteil an zahlreichen Beispielen beschreibt, die, jedenfalls beim Lesen, in ihrer Reihung eintönig und langweilig sind. Ziel der Spieltechniken Boals ist es, innere Blockaden und Hemmungen im Ich abzubauen, die ein anderes, besseres Verhalten der Person verhindern. Exemplarisch sei hier die titelgebende „Regenbogen der Wünsche“-Technik beschrieben: Ein Teilnehmer eines Workshops, den ein Spielleiter betreut, erklärt sich bereit, eine Konfliktszene aus seinem Alltag zwischen sich, dem Protagonisten, und einem Antagonisten zu improvisieren. Zu dieser Szene „erfindet“ der Protagonist fünf verschiedene Bilder seiner Wünsche und Gefühle, die ihm bei der Szene wichtig sind, und führt diese mittels Körperausdrucks vor. Die anderen Teilnehmer wiederum reproduzieren diese Bild-Skulpturen. Dann werden der Antagonist als Zentrum und die verschiedenen „Farben“ seiner Wünsche vom Protagonisten in einem Gesamtbild arrangiert. In dem der Protagonist dann den Platz des Antagonisten einnimmt, kann er erfahren und beobachten, wie er eigentlich vom anderen wahrgenommen wird. Aus dieser Perspektive könne der Protagonist sein eigenes Verhalten reflektieren und möglicherweise ändern.

Die Komplexität dieser kurzen Zusammenfassung ist schon etwas verwirrend. Im originalen Boal-Text wird dieses Spiel einschließlich der Praxisbeispiele auf vierzehn Seiten dargestellt, was dann kaum noch nachvollziehbar ist, abgesehen davon, daß diese Spielanleitungen an einer großen Unsinnlichkeit kranken.

Die Anwendung theatralisch-dramatischer bzw. spielerischer Formen in Therapien ist nichts Neues. Bereits in den zwanziger Jahren begründete der Wiener Psychiater Jakob Levy Moreno das Verfahren des Psychodramas, in dem die Patienten ihre Konflikte durch spontanes Spiel ausdrücken. Auch ist die Publikumsbeteiligung im Kinder- und Jugendtheater durchaus bekannt, auch wenn sie in Deutschland nicht oft praktiziert wird. Hingegen ist die Audience participation im angelsächsischen Kindertheater gang und gäbe und bei den Kindern dort sehr beliebt.

Die Boalsche Methode will keine Therapie sein, ist es ihrer Struktur nach jedoch durchaus. Daraus ergibt sich die Gefahr, daß in Workshops, zumal sie auf das Wochenende beschränkt sind, die psychischen und verhaltensmäßigen Probleme der Teilnehmer zwar angesprochen und aufgerissen werden, eine angemessene psychologische Weiterbetreuung offenbar weder vorgesehen noch empfohlen wird. Dies ist sträflich, und hier macht es sich Boal bei weitem zu leicht. Auch künden die gegebenen Praxisberichte des öfteren von Spielen, die ungünstig oder unbefriedigend für die Teilnehmer enden. Doch was wird daraus später? Zudem wird an keiner Stelle des Buchs gefordert, daß die Spielleiter therapeutisch und/oder theaterpädagogisch zumindest eine Grundausbildung haben sollten und wie diese im Hinblick auf die Methode Boals aussehen sollte. Gerade im undurchschaubaren Psycho-Dschungel ist die Gefahr groß, daß man in die Hände von selbst oder wem auch immer ernannten Therapeuten gerät.

Der Herausgeber und Bearbeiter Jürgen Weintz hat als Textgrundlage der deutschen Ausgabe die englische Übersetzung des französischen Urtextes herangezogen. Somit hält der geneigte Leser die Bearbeitung einer Bearbeitung einer Bearbeitung eines Textdokuments in Händen, was die Gefahr von Verlusten bei Stil, Form und Textgestalt indiziert. Die Übersetzung von Christa Holtei ist, soweit ich sie überprüft habe, im großen und ganzen solide und sicher. Der Bearbeiter hat kleinere Abschnitte weggelassen; mithin leidet die Textgestalt durch in den Text eingearbeitete Randnotizen.

Insgesamt ist Der Regenbogen der Wünsche ein Buch, bei dem man nicht recht weiß, was es sein soll: ein Arbeitsbuch, ein Lehrbuch, Spielanleitung, Therapiebericht? Auf jeden Fall ist es eines, daß man mit großer Vorsicht benutzen sollte.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

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