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Klaus Schuhmann

Zeitsplitter: „Wende“-Einsprengsel

 

Es kommt nicht selten vor, daß Lyriker etwas schreiben, das nicht recht ins Bild paßt, das sie in der Regel ihren Büchern geben. Und es paßt manchmal auch nicht in das Bild, das sich die Leser von ihrem gedichteschreibenden Autor gemacht haben.

So mußten einige Gedichte, die Stefan George schrieb, zunächst außerhalb seiner Gedichtbücher bleiben, weil sie dem widersprachen, was der Meister in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in seiner Zeitschrift „Blätter für die Kunst“ als Programm angekündigt hatte. Unter der Rubrik „Zeitgedichte“ fanden sie dann ein Dach, das sie vereinte.

Neben den 1918 unter dem Titel Weltende veröffentlichten Gedichten des Jakob van Hoddis existierten in den Jahren davor schon Gedichte, die erst aus dem Nachlaß ediert wurden und einen Lyriker zu erkennen geben, der von 1905 bis 1906 „Epigramme und Satyren“ schrieb, in deren „Vorrede“ er seine Schreibabsicht kundtut:

Ich spreche meinen derben Spruch,
Ob ihr verdammt mich und verflucht,
Ob eur Schwanz das Weite sucht,
Ich spreche meinen derben Spruch.

Des ungewaschenen Liedes freches Spiel
Darf dich wahrhaftig nicht erbosen,
Doch spiel dabei am Schwanz nicht allzuviel,
Sonst geht er los - O weh die Unterhosen!

Dann folgen zahlreiche Vierzeiler und umfangreichere Gedichte, deren Titel einiges darüber verraten, womit sich der Gymnasiast beschäftigte: „Moderne Ästhetik“, „Die neue Richtung“, „Boecklin“, „Grillparzer“, „Herr Würstchen“, „Philister“ und „Prostitution“.

Jahrzehnte später schrieb Erich Kästner an zumindest formal vergleichbaren Texten, die ebenfalls zur Zeit ihrer Manuskriptlegung - 1943 - nicht erscheinen konnten. „Sprüche und Widersprüche“ sollte diese Textsorte ursprünglich heißen, ehe sie dann in den Nachkriegsjahren unter dem Titel Kurz und bündig bekannt wurden. Der letzte Satz des „Vorworts“ lautete: „Das Epigramm ist tot? Es lebe das Epigramm!“ Programmatisch wie bei van Hoddis verkündete auch der berühmte Kinderbuchautor in einem Vierzeiler:

Präzision

Wer was zu sagen hat,
hat keine Eile.
Er läßt sich Zeit und sagt’s
in einer Zeile.

Als Jahrzehnte später die Zeit nahte, die als die „Wende“ in die Geschichte eingegangen ist, trieb es gleich zwei Lyriker, Sprüche vergleichbarer Art zu machen und unter ihren meist als länger bekannten Texten unterzubringen: Volker Braun in seinem 1987 erschienenen Gedichtband Langsamer knirschender Morgen und Steffen Mensching in seinen Berliner Elegien, die 1995 auf den Büchermarkt kamen.

Diese Bücher verbinden zwei Gemeinsamkeiten: Ihre Verfasser sind - dem Wohnort nach- Berliner, und auch ihre Texte, die vor und nach der „Wende“ geschrieben wurden, sind nach ihrem Geburtsort Berlinische Epigramme und Berliner Elegien genannt worden. Auf Brauns Epigramme stößt der Leser unvorbereitet auf Seite 63 seines Gedichtbuches und kann den bis 164 numerierten Texten dann bis auf Seite 86 folgen. Sie bilden gleichsam den Anhang zu den großen „Material“-Texten, die unter die Rubrik „Der Stoff zum Leben“ geordnet wurden. Das erste Drittel dieses Bandes stellte - auch das ein Novum bei Braun - „Satiren und Lektionen“ vor.

Menschings Buch wird dem Titel nach als Berliner Elegien angekündigt, enthält darüber hinaus aber noch größere Textgebilde, die sich nicht unter den Haupttitel bringen lassen. Und - anders als bei Braun - alternieren seine Elegien im Verlaufe der Lektüre mit diesen Gedichten, so daß vier Elegien-Blöcke entstehen und die Masse dieser Textsorte auf das gesamte Buch verteilt wird. Das ist eine geschickte Leserlenkung, die den einzelnen Texten zu mehr Gewicht verhilft und dem Leser das schnelle Überfliegen erschwert, dem er bei so kurzen Texten durchaus erliegen kann, so daß die hier gezündeten „Raketen“ leicht verpuffen könnten. Diese Gefahr wird noch deutlicher bei Braun, der sie in nur einem Block präsentiert, der dem Einzeltext zu wenig Raum läßt, sich zu entfalten und nachzuhallen.

Dabei hat der Autor natürlich zu veranschlagen, daß nicht jede seiner „Raketen“ mit gleicher Leuchtkraft in den Himmel zieht und die irdischen Verhältnisse blitzartig zu beleuchten vermag. Das aber wollen die hier gesammelten Epigramme und Elegien, die in Menschings Handschrift das Vorbild der „Buckower“ nicht leugnen.

Was diese Spruchdichtung vom gewohnten Format bei beiden Autoren unterscheidet, ist schnell erkennbar. Epigramm und Elegie wurzeln zwar - wie bei den Dichtern früherer Zeiten - in der Wirklichkeit, doch handelt es sich bei ihren Stoffen gleichsam um Splitter der Zeitgeschichte, bei denen die Scherbe zugespitzt zeigt, was im Wirklichkeitsganzen eher als ein nebensächliches Detail abgetan werden könnte. Auch wird Zeitmessung hier im Sekundentakt betrieben, also das fixiert, was am Tag und zur Stunde gesehen, gelesen, erlebt oder gar erfahren wurde. Der Augenblick muß gebannt werden, möglichst knapp und möglichst präzis. Ohne viele Worte. Merk-würdig wie ein Spruch, den man sich einprägen kann. Dabei muß das Gesehene und schriftlich Fixierte möglichst für sich selbst sprechen, oder der Schreiber muß es so vortragen, daß davon eine schlaglichtartige Wirkung ausgeht. Beide Verfasser mußten schnell und zupackend formulieren, damit sich das Ereignis nicht in der schnellebigen Zeit verflüchtigen konnte.

Wie van Hoddis und Kästner braucht auch Braun zu Beginn ein paar Sätze, um seinen geographischen Standort anzuzeigen:

1
Alle verließen wir, nassen Augs, die Heimat der Dichter
Um im preußischen Sand in dem Getriebe zu sein.

2
Nun ist die Wüste bewässert, aber Sachsen liegt öde.
Eine Zeile nur gießt (diese) noch Glanz auf die Flur!

Die politische Ortsbeschreibung folgt dann gleichauf:

3
Dicht an der Mauer mein Bett, so lieg ich inmitten der Welten
Träum mich in Niemands Land, trete in jedermanns Tür.

Und dann kommt es zum Stadtgang (in jedermanns Tür hat er freilich keinen Zutritt bzw. nur dann, wenn die erbetene Audienz genehmigt wurde), hinaus in den „preußischen Sand“, diesmal offenbar zu Fuß und nicht per Pferd wie im Hinze und Kunze-Roman. Der Dichter kommt nun auch gleich zur Sache und hat mit dem Augenschein auch schon die Probleme vor Augen:

11
Abgerissen das Schloß, und das Junkertum stumpfo stieloque.
Aber um unseren Palast wurzelt schon wieder das Kraut.

12
Hat man ihn wieder? Mich freut’s. Der Alte Fritz hoch zu Rosse.
Hat doch auch Lessing zugleich wieder sein Denkmal, am Arsch.

13
Was die Bourgeoisie über Nacht aus dem Boden gestampft hat
Und in ihn hinein! Beides vermöchten wir nie.

14
Abgehäutet die Häuser starren, häßliche Fressen.
Nun besitzen wir sie, aber erwarben sie nicht.

Nicht weniger sarkastisch geht Brauns Rede, wenn er den Blick auf die geteilte Stadt wirft und beide Seiten nicht als gut bewohnbar erkennt:

84
Freier wäre ich da, und könnte tun oder lassen -
Was weiß ich. Was ich weiß, reicht zum Berufsverbot aus.

85
Diese Stadt ist geschützt, zwei Millionen Groß-, ja doch, schnauzen
Und mit Herz; keinem Feind, auch nicht dem besten, genehm.

86
Lizensiert ist das Leben, es schäumt im gefüllten Kanister
Und die Freiheit auch: so konzentriert braust sie auf.

87
Warum sollen sie nicht den Reichstag verpacken, in Klarsicht-
Folie? wie eine Ware, wie doch alles zur Ware hier wird.

In einigen Epigrammen simuliert Braun als Entscheidungsmöglichkeit, was er wenige Jahre später als Konsequenz verfehlter Sozialismus-Politik im Gedicht „Das Eigentum“ nicht ohne Schmerz feststellen mußte: „Mein Land geht in den Westen.“

1988 vollzog auch der Epigrammschreiber Braun einen Wechsel: Aus der doppelten Langzeile des wohl an Lessing geschulten Gedichts wurden die Mehrzeiler der „Zickzackbrücke“, in denen eine andere Art des Epigramms ausgebildet wird, die stärker dem Untertitel des 1992 erschienenen Bandes Ein Abrißkalender verpflichtet ist. Dabei meint „Abriß“ einerseits Demontage (nicht eines einzelnen Gebäudes, sondern eines obsolet gewordenen Bauwerks im übertragenen Sinn) und erinnert andererseits an die Kalenderblätter, die abgerissen werden: also das Zeitvergehen im chronologischen Wortsinn. Unter diesen Texten findet sich das „Die Wende“ überschriebene Gedicht:

Dieser überraschende Landwind
In den Korridoren. Zerschmetterte
Schreibtische. Das Blut, das die Zeitungen
UND DER RUHM? UND DER HUNGER
Erbrechen. Auf den Hacken
Dreht sich die Geschichte um;
Für einen Moment
Entschlossen.

Auch Meschings Elegien, die in ihrer Bauweise den Epigrammen der „Zickzackbrücke“ gleichen, fixieren Augenblicke einer Übergangszeit. Während die erste Gedichtgruppe noch makabere Bilder einer Endzeit liefert, ist in den folgenden schon zu sehen, wie der Umbruch auch Menschen und Lebensläufe bricht und verändert. Dabei bildet Mensching nicht einfach Gesehenes ab, sondern verdichtet es, indem er Namen kombiniert, deren Melange schmecken läßt, daß der Sekt bei diesem Staatsempfang verdorben ist:

Im Ministerium zum Staatsempfang
Spielte ein Punk-
Trio aus Rio, Bautzen oder Caracas
Kein Wunder, daß
Das Fest gelang, dank
Hegel am Flügel, Plato am Baß
und Nick Machiavelle, Gesang

Wie bei Braun ist auch in Meschings Texten die Doppelsignatur der Stadt Berlin erkennbar, nicht selten in Augenblicken erfahren, in denen Vergangenheit und Gegenwart (die Zukunft ist ebenso absehbar) kontrastierend nebeneinander und zugleich zu existieren scheinen und der Sprechende gleichsam zwischen Tür und Angel steht:

Die graue Wolke wanderte über die Stadt-
Mitte. Wie isses Wetter so, rief ich, in
Der andern Welt?, ins Telefon. Regen,
Sagtest du, am Bahnhof Zoo stehend. Und
Bei uns? Noch scheint die Sonne, sagte ich
Leise und verschluckte: bei uns

Im vierten Elegienteil sind es zwei Porträt-Schnappschüsse, die durch epigrammatische Zuspitzung eine Pointe erhalten, die für die zugreifende Kraft dieser Texte sprechen. Auch hier wird der Wechsel der Zeiten thematisiert, der eine neue Art der Anpassung hervorbringt:

Ich war, sagt P., schon immer dagegen.
Fotos belegen, auf jeder Demonstration,
Am Ersten Mai oder Siebenten Oktober,
Hab ich, mit meiner rechten, geballten,
Gestreckten Faust, den Bonzen
Auf der Tribüne, vor aller Augen, gedroht

Sind es hier drei Adjektive, die der „Faust“ zu hohlem Pathos verhelfen, das der Zeit nicht standhielt, so bezieht Mensching im letzten Elegien-Epigramm die Wirkung ganz aus der im Titel angesagten „Ironie der Geschichte“, wobei der Name des Bestattungsinstituts nicht weniger für sich spricht als die wörtliche Rede dessen, der nun nicht mehr sprechen kann:

Ironie der Geschichte, denkt S., früher
Parteisekretär, heute Geschäftsführer
Des Bestattungsinstituts Zur letzten Ruhe,
Im Kühlhaus, an der Bahre
Seines alten Genossen, hatte nicht der ihm
Das Mitgliedsbuch einst vor die Füße
Geworfen, mit den Worten, sowas
Wie Dich bringt mich nochmal ins Grab

Im Klappentext zur Person des Autors wird Mensching „Zeitaufstörer“ genannt. Dieser Begriff ließe sich ohne Abstriche auch auf die meisten Texte von Volker Braun übertragen. Diese Epigramme und Elegien stören die Zeit auf und halten sie in Worten fest, die sie, zur Geschichte geworden, lebendig erhalten.

Mit B. K. Tragelehn hat sich 1999 in zwei Heften der „ndl“ ein dritter Schriftsteller aus Berlin mit Distichen zu Wort gemeldet, die ihn als „Zeitaufstörer“ und Zeitbewahrer (im Sinne des Chronisten) ausweisen.

Es ist offenkundig: Seine Zweizeiler erhalten ihr spezifisches Gewicht nicht zuletzt dadurch, daß sie dort einspringen, wo es der Zeit an großen Stoffen gebricht, die das politische Gedicht braucht, um entstehen zu können. Man könnte fast glauben, mit diesen drei Autoren werde eine alte Tradition wieder aufgenommen und neu begründet. Der „Berliner Republik“ und dem neuen Jahrhundert als Begleitmusik aufgespielt!

Mit einer seiner „Xenien“ hat sich Tragelehn schon auf das Personal und den neuen Schauplatz der deutschen Politik eingestimmt:

Name und Adresse
Schranzler Köder und Fishermans Freunde das ist die Mannschaft
Neue Mitte der Ort wo man die Bomber belädt.

Literatur:

Volker Braun: Langsamer knirschender Morgen, Mitteldeutscher Verlag, Halle/Leipzig 1987, 92 S.

Steffen Mensching: Berliner Elegien, Faber & Faber, Leipzig 1995, 74S.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

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