Eine Rezension von Dorothea Körner


Eine ungewöhnliche Preußin

Jane Pejsa: Mit dem Mut einer Frau
Ruth von Kleist-Retzow. Matriarchin im Widerstand.
Aus dem Amerikanischen von Beate Springmann.

Verlag Joh. Brendow & Sohn, Moers 1999, 446 S.

 

Von der Biographie der preußischen Adligen Ruth von Kleist-Retzow, geb. Gräfin von Zedlitz und Trützschler (1867-1945), einer geistig ungewöhnlich lebendigen und selbständigen Frau, die in Umbruchzeiten lebte, von einer jahrhundertelangen Lebensform und Standesethik geprägt war, aber auch die Herausforderungen der Moderne sah und beide zu vereinen suchte, handelt dieses Buch. Die Welt der Gutsbesitzer in Pommern und der Neumark, all der adligen Familien, mit denen sie befreundet und verschwägert war, ersteht mit dieser Frau: ihre patriarchalische Führung der Güter, die Verantwortung für die zum Gut gehörenden Dorfbewohner, der bescheidene Lebensstil, ein ausgeprägter Familiensinn, die pietistische Frömmigkeit, ihre Liebe zum Militär - und die unbedingte Treue zum Kaiserhaus. Nach dem Ende der Monarchie fühlten sich diese Menschen verraten, sie verweigerten sich mehr oder weniger der Demokratie, besaßen aber - zumindest die hier beschriebenen Familien - ein feines Gespür für politischen Anstand und persönliche Integrität. So verabscheuten sie die Nazis von Anfang an und wagten ihr Leben im Widerstand. Ruth von Kleist-Retzow ist eine großartige - und typische - Repräsentantin ihrer Klasse. Ihre enge Verwandtschaft mit den Kleist-Schmenzins, den Tresckows, Bismarcks, Wedemeyers, von Ostens - Namen, die heute symbolisch für den 20. Juli 1944 stehen - ist bezeichnend für den Geist dieser Frau. Eine besondere Bedeutung kommt ihr aber als enge Freundin Dietrich Bonhoeffers zu, als - unbewußte - Vermittlerin zwischen dem intellektuellen Kreis um Bonhoeffer und dem konservativen Widerstand der Militärs.

Die amerikanische Autorin Jane Pejsa, die für diese Biographie noch lebende Familienmitglieder befragte, sich auf Memoiren und andere schriftliche Zeugnisse stützte und von prominenten amerikanischen Historikern beraten wurde, hat den Vorteil der Distanz und Unbefangenheit gegenüber der deutschen Geschichte. Das kommt dieser sachlichen, unprätentiösen Darstellung sehr zugute.

Mit achtzehn Jahren heiratete Ruth von Zedlitz und Trützschler Jürgen von Kleist, den künftigen Landrat von Belgard (Bialogard) (Pommern). Der Wechsel von den reichen schlesischen Gütern zu den bescheideneren, oft verschuldeten Landsitzen in Pommern, aus denen Jürgen von Kleist stammte, war für die junge Frau zunächst enttäuschend. Ihr Antrittsbesuch auf dem nahe gelegenen Gut Kieckow (Kikowo) der Kleists gab ihr Einblick in die patriarchalische und tief religiöse Welt der pommerschen Landadligen. Nach zehn Ehejahren in Belgard, wo vier Kinder geboren wurden, zog die Familie 1896 in das Gutshaus von Kieckow. Der Landrat hatte als ältester Sohn das Gut und die darauf liegenden Schulden geerbt. Ein Jahr darauf - die jüngste Tochter Ruthchen war gerade geboren - starb er an einer Nierenerkrankung. Die 31jährige Witwe war untröstlich. Nach eindringlichem Zureden ihres Vaters entschloß sie sich, die Verantwortung für das Gut und die zwei Dörfer allein zu übernehmen.

Da Ruth Internatsplätze nicht finanzieren konnte, ihren Kindern aber eine gute Schulbildung zu ermöglichen suchte, beschloß sie 1899, nach Stettin zu ziehen. Das Gut in Kiekow überließ sie einem Verwalter und visitierte es monatlich. Mit den heranwachsenden Töchtern stellte sich die Sorge um deren Zukunft ein. Als Spes, die Pianistin werden wollte, einen reichen Stettiner Unternehmer abwies, sah sich die Mutter gezwungen, ihr die finanzielle Notsituation der Familie darzulegen. Spes willigte in die Ehe ein; sie wurde später geschieden, und Spes lebte mit ihren Kindern in Berlin. Die zweite Tochter Maria heiratete den Juristen Herbert von Bismarck und wurde Gutsfrau in dem pommerschen Lasbek (Lososnica). Ruths ältester Sohn Hans-Jürgen, der Forstwirtschaft studiert hatte, übernahm Kieckow. Konstantin, der Lieblingssohn der Mutter, wurde Privatsekretär bei einem jüdischen Geschäftsmann in Frankfurt/Main, mit dessen Familie er freundschaftlich verbunden war. Lediglich die jüngste Tochter Ruthchen lebte noch mit der Mutter zusammen.

Als der Erste Weltkrieg ausbrach, wurden sämtliche Söhne und Schwiegersöhne Ruth von Kleists eingezogen, die Matriarchin forderte die jungen Frauen auf, sich samt ihren Kindern im Stammhaus Kieckow einzufinden, um dort gemeinsam den Krieg zu überstehen. Sie selbst übernahm die Leitung des Gutes, ihre Schwiegertochter den Haushalt, Spes unterrichtete die 50 Dorfschulkinder, Maria den Kleistschen Nachwuchs, und Ruthchen, die Jüngste, führte die Wirtschaftsbücher. Konstantin, der als Pilot ausgebildet worden war, fiel.

Im November 1918 - mitten in den revolutionären Unruhen - heiratete Ruthchen Hans von Wedemeyer, den Sohn einer befreundeten Adelsfamilie aus der Neumark, und wurde Gutsfrau in Pätzig (Piaseczno) bei Wartenberg. Ihre Mutter zog sich nach der Rückkehr ihres ältesten Sohnes Hans Jürgen aus Kieckow zurück und lebte fortan in dem bescheideneren Gutshaus im benachbarten Klein Krössin (Krosinko), wo sie nun Muße hatte, sich mit theologischen und sozialen Fragen zu beschäftigen. In den Dörfern ringsum streikten zum erstenmal die Landarbeiter, was ihren Neffen Ewald von Kleist im benachbarten Schmenzin veranlaßte, den Leuten auf seinen Gütern zu erklären, zwar habe der König von Preußen abgedankt, sie seien aber weiterhin Untertanen der Hohenzollern; und bis zu einem neuen König vertrete er diese in seinen Dörfern. Ruth von Kleist-Retzow, die viel mit dem benachbarten Ewald diskutierte, begann über die Rolle ihrer Gesellschaftsschicht unter den neuen demokratischen Bedingungen nachzudenken und schrieb darüber ein Buch Die soziale Krise und die Verantwortung der Gutsbesitzer. Sie hatte Kontakt zu Elisabeth von Tadden auf Schloß Triglaff, die hier jährlich Konferenzen mit führenden Intellektuellen zu Fragen des Sozialstaates, der Ökumene und des Weltfriedens organisierte. In Begleitung ihres Schwiegersohnes Hans von Wedemeyer nahm sie an Konferenzen zur Erneuerung der evangelischen Kirche in Berneuchen teil und lernte hier Paul Tillich kennen. Später las sie Karl Barth und wurde eine enge Freundin Dietrich Bonhoeffers, der häufig Gast in Klein Krössin war und hier ungestört an seiner „Ethik“ arbeiten konnte.

Ewald von Kleist, der wie die Bismarcks, Wedemeyers, Tresckows, von Ostens und alle anderen Kleists der konservativen Deutschnationalen Volkspartei angehörte, hatte bereits Ende der 20er Jahre, als Hitlers Mein Kampf erschien, die Familie vor dessen Ideologie eindringlich gewarnt. Im April 1932, nach Brünings Entlassung, fragte Hindenburg bei Oskar von der Osten, dem Schwiegervater Ewald von Kleists, an, ob er bereit sei, Kanzler zu werden. Osten stimmte zu und entwarf eine Regierung aus Sozialdemokraten und Deutschnationalen, die jedoch nie zustande kam. Unter dem Druck der Rechtskonservativen berief Hindenburg an seiner Stelle Franz von Papen zum Kanzler, der später auch die sozialdemokratische preußische Regierung auflöste. Herbert von Bismarck, Ruth von Kleists Schwiegersohn, wurde zeitweise Staatssekretär im preußischen Innenministerium. Sein Assistent war der junge Jurist Fabian von Schlabrendorff, der Ruths Enkelin Luitgarde von Bismarck heiratete. Herbert von Bismarck und Fabian von Schlabrendorff waren sich in der Ablehnung der Nazis einig. Um eine Koalition von Deutschnationalen und Nazis zu verhindern, die Papen und Hugenberg vorbereiteten, intervenierte Ewald von Kleist bei Hindenburg und beschwor ihn, Hitler nicht zum Kanzler zu ernennen. Doch Hindenburg fiel ein weiteres Mal um. Später beschuldigte Ewald von Kleist die Rechtskonsevativen, das Vaterland verraten zu haben.

Im Sommer 1935 - die Matriarchin war 68 Jahre alt - übersiedelte Ruth von Kleist-Retzow erneut nach Stettin, um ihren Kleist-, Bismarck- und Wedemeyer-Enkeln den Schulbesuch auf einem städtischen Gymnasium zu ermöglichen, das die Nazis noch nicht vereinnahmt hatten. Die Jüngste in dieser „Enkelpension“ war Maria von Wedemeyer, die spätere Braut Dietrich Bonhoeffers. Ruth von Kleist-Retzow, die wußte, daß der berühmte Berliner Theologiedozent in Finkenwalde nahe bei Stettin ein Predigerseminar der Bekennenden Kirche leitete, besuchte zusammen mit ihren Enkeln die dortigen Gottesdienste, freundete sich mit Bonhoeffer an und warb auf den pommerschen Gütern um Sachspenden für das Seminar.

Nach der Vereinnahmung Österreichs durch Hitler schlossen sich die Gutsnachbarn Hans Jürgen und Ewald von Kleist der Verschwörung gegen die deutsche Regierung an. Ewald von Kleist reiste im Auftrag der Abwehr im Oberkommando der Wehrmacht nach England, um die englische Regierung dazu zu bewegen, Hitlers Besetzung des Sudetenlandes zu verhindern, denn dann - so glaubte er - sei die Chance für einen Militärputsch gegeben. Es gelang ihm, Churchill die gesamten Kriegspläne Hitlers zu unterbreiten. Doch der Oppositionsführer hatte keinen Einfluß auf die britische Außenpolitik. Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges sprach auch Fabian von Schlabrendorff mit Churchill und unterrichtete ihn von dem deutsch-sowjetischen Geheimabkommen. Dietrich Bonhoeffer, der inzwischen ebenfalls im Auftrag der Abwehr arbeitete, konferierte auf den pommerschen Gütern mit Hans Jürgen und Ewald von Kleist. Letzterer, der als Mitglied einer künftigen Regierung vorgesehen war, zog sich Ende 1941, als Hitler das Oberkommando des Heeres selbst übernahm, resigniert aus dem Widerstand zurück. Seiner Meinung nach war damit die Chance für einen Putsch verspielt.

Im Juni 1942 trafen Maria von Wedemeyer, die eben ihr Abitur bestanden hatte, und Dietrich Bonhoeffer als Gäste Ruth von Kleists in Klein Krössin zusammen. Das junge Mädchen bezauberte den Theologen. Die Großmutter sorgte dafür, daß sich die beiden in Berlin an ihrem Krankenbett näherkamen. Eine offizielle Verlobung fand jedoch nicht statt. Marias Mutter, die ein Jahr Wartezeit verlangt hatte, gab die Verbindung erst nach Bonhoeffers Verhaftung im April 1943 öffentlich bekannt.

Nach der deutschen Niederlage von Stalingrad erklärte sich Ruths Neffe, Oberst Henning von Tresckow, der unter den Generälen um Verbündete gegen Hitler warb, bereit, den Führer umzubringen.Auch Fabian von Schlabrendorff und Ewald Heinrich von Kleist, der Sohn Ewald von Kleists, stellten sich zur Verfügung. Drei Attentatsversuche kamen wegen technischer Pannen bzw. weil Hitler im letzten Augenblick unvorhergesehen reagierte nicht zum Ziel. Nachdem die Atlantikinvasion begonnen hatte und eine neue deutsche Regierung keine Chance mehr gehabt hätte, mit den Westmächten Frieden zu schließen, hielten viele Militärs einen Putsch für sinnlos. Stauffenberg, die zentrale Gestalt unter den Verschwörern, fragte bei Henning von Tresckow an, ob man an den alten Plänen festhalten sollte. Dieser entschied, das Attentat und den Staatsstreich auf jeden Fall zu versuchen, um vor der Weltöffentlichkeit ein Zeichen zu setzen. Am 20. Juli war es soweit.

Nachdem das Attentat gescheitert war, begab sich Henning von Tresckow bewußt zwischen die Fronten und fiel durch sowjetische Soldaten. Er wurde in Wartenberg beigesetzt, einige Tage später aber von der Gestapo exhumiert und aller militärischen Ehren entkleidet. In Pommern wurden Ewald und Hans Jürgen von Kleist verhaftet und nach Berlin in die Prinz-Albrecht-Straße überstellt. Verhaftet wurden auch Fabian von Schlabrendorff und Ewald Heinrich von Kleist. Letzterer kam durch einen Irrtum Hitlers frei. Ewald von Kleist wurde vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt. Fabian von Schlabrendorff und Hans Jürgen von Kleist überlebten. Ruth von Kleist-Retzow, die von der Verschwörung Bonhoeffers und ihrer Familienmitglieder nichts wußte, wohl aber manches ahnte, es vermutlich gutgeheißen hätte und selbst zeitweise Juden versteckte, starb am 2. Oktober 1945 in Klein Krössin. Mit ihr ging ein spezifischer Konservatismus zu Ende, der zuletzt über sich selbst hinauswuchs.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite