Eine Rezension von Hans-Rainer John


Schande, Schändung und Bodengewinn

J. M. Coetzee: Schande
Roman. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke.

S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2000, 288 S.

 

David Lurie, Professor für Kommunikationswissenschaften an der Universität Kapstadt, zweimal geschieden, hat wieder einmal mit einer Frau angebandelt. Gut, Melanie Isaacs ist eine seiner Studentinnen, und er hat sie überrumpelt, mit seiner Erfahrung und Autorität erdrückt, aber Gewalt war eindeutig nicht im Spiel. So ist er überrascht, verletzt, gekränkt, als das verunsicherte Mädchen, von den Eltern und einem Freund unter Druck gesetzt, bei der Uni Klage einreicht. Vor einem Untersuchungsausschuß liefert Lurie nicht nur ein Schuldbekenntnis, er reagiert auch gereizt, benimmt sich unklug, weist Vermittlungsvorschläge brüsk zurück. So wird er mit Schimpf und Schande davongejagt.

Er zieht sich aufs Land zurück, wo seine Tochter Lucy in einsamer Gegend mühsam eine kleine Farm mit Hundepension betreibt. Er will dort ein Buch schreiben über Byron, oder ein Musical, er will Abstand gewinnen. Da wird die Farm von drei Gangstern überfallen und ausgeraubt, er selbst schwer verletzt, die Tochter mehrfach geschändet, die Hunde werden erschossen. Lucy zieht sich in sich selbst zurück, unterschlägt der Polizei die Vergewaltigungen, erträgt es widerstandslos, als einer aus der Dreierbande als Stiefsohn des Nachbarn wieder auftaucht. Sie ist bereit, im Rahmen eines Sicherheits- und Beistandspakts den Nachbarn zu ehelichen, ihm ihr Land zu überschreiben, das Kind der Gewalt zur Welt zu bringen. Es ist ihre Art, mit der „Schande“ umzugehen. Es ist für sie der Preis für das Bleiberecht, an dem der Bodenständigen liegt. Lurie kämpft gegen diese Duldung und Ergebenheit an, er will die Bestrafung der Täter um jeden Preis, will sich wehren, wütend aufbegehren, die Tochter zum Wegzug bewegen, sie aus dem Gefahrenbereich retten.

Der grundlegende existentielle Konflikt entfremdet Vater und Tochter. Unvereinbare Standpunkte treffen aufeinander. Am Ende kann er sich nur in der Nähe einmieten und ohnmächtig beobachten und abwarten. Auch seine Bemühungen um Byron scheitern. Als er am Ende sogar den Hund, dem seine besondere Zuneigung gilt, für die Todesspritze freigibt, scheint die Resignation total.

Coetzee, 1940 in Kapstadt geboren und Literaturprofessor in seiner Heimatstadt, vielgerühmter und mit zahlreichen Preisen ausgezeichneter Romancier (der einzige wohl, der den renommierten Booker Prize zweimal erhalten hat, 1983 für Leben und Zeit des MichaelK. und 1999 für Schande), zeigt sich auf der Höhe seines Könnens. Eine wunderbare, glasklare Prosa. Knappe, schnörkellose Sätze, keiner zuviel. Eine unpathetische, harte Geschichte, weder in Action schwelgend noch in Psychologismen untertauchend, aber - ist sie schon zu Ende erzählt? Bricht sie nicht vielmehr ab und hinterläßt den Eindruck des Unvollendeten und ein Gefühl des Unbefriedigtseins? Der Verlag preist sie als „Geschichte einer Lebenskrise, einer Bewußtwerdung und einer Neuorientierung“. Die Krise ist da, greifbar und überzeugend ganz und gar; die Bewußtwerdung wird angestoßen, nicht zu Ende geführt; von Neuorientierung aber weit und breit noch keine Spur. Ist es nicht, als ob uns der Autor den zweiten Teil noch schuldig wäre?

Der Roman spielt im Südafrika der Nach-Apartheid-Zeit. Die vielleicht interessanteste Figur ist Petrus, der Nachbar, ein Schwarzer. Er ist ein tüchtiger Landarbeiter, ist er auch ein guter Mensch? Coetzee beläßt das im Unbestimmten, meint aber, Leuten wie ihm gehöre jedenfalls die Zukunft. Petrus war zunächst bei Lucy angestellt, dann hat er ihr ein Stück Boden abgekauft, ein Haus gebaut, zwei Frauen ziehen zu ihm, Nachwuchs ist unterwegs. Ob er im Überfall drinhängt, bleibt offen, aber bald wird ihm auch Lucy gehören und deren Land, weil sie sonst ohne Schutz ist, Freiwild. Weiße wie Farmer Ettinger haben keine Perspektive. Es ist nur eine Frage der Zeit, dann wird man Ettinger mit einer Kugel im Rücken finden, meint Coetzee. Es hat sich viel verändert in Südafrika seit Mandela.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite