Annotation von Dorothea Körner


 

Goertz, Joachim (Hrsg.):
Die Solidarische Kirche in der DDR
Erfahrungen, Erinnerungen, Erkenntnisse.
BasisDruck, Berlin 1999, 370 S.

Dieser Band informiert über eine oppositionelle Gruppe, die in der Öffentlichkeit wenig bekannt ist: Die „Solidarische Kirche” wurde 1984/85 von Absolventen des Wittenberger Predigerseminars als eine Art kirchlicher Gewerkschaft gegründet und war schon im Oktober 1986 DDR-weit vernetzt. Ihr gehörten etwa 300 Personen - zumeist junge Theologen und kirchliche Mitarbeiter - an, die sich für eine Demokratisierung der Kirche wie der Gesellschaft einsetzten. Sie stießen sich daran, daß die Amtskirche homosexuelle Vikare, Pfarrer, die in Scheidung, junge Theologen, die in eheähnlichen Lebensgemeinschaften lebten, oder Pastorinnen, die ein uneheliches Kind erwarteten, diskriminierte. Sie protestierten gegen die patriarchalische Art der kirchlichen Ausbildung oder die schlechte Bezahlung nichtakademischer kirchlicher Mitarbeiter. Ihre Kritik galt der kirchlichen Hierarchie und deren Verhältnis zum Staat.

Die Inititative ging von einem Freundeskreis junger, politisch engagierter Theologen aus, die am Naumburger Oberseminar studiert hatten und sich nun in der Vereinzelung des Pfarramtes vorfanden. Die Gründungsversammlung des „Arbeitskreises Solidarische Kirche” (AKSK) fand am 6. und 7. Oktober 1986 im Gemeindehaus von Berlin-Karlshorst statt. Die Teilnahme stand allen offen, Mitgliedsbeiträge wurden nicht erhoben. Die „Solidarische Kirche” verstand sich als „Lernfeld von Demokratie”. Viele waren bereits in anderen Gruppierungen wie der „Kirche von unten”, in Friedens- und Ökologiekreisen engagiert. Marianne Birthler fungierte zunächst als Kontaktadresse. Ein Koordinierungsausschuß vertrat die „Solidarische Kirche” nach außen - etwa in Gesprächen mit dem Bund der evangelischen Kirchen in der DDR - und bereitete die Vollversammlungen, die zweimal jährlich stattfanden, vor bzw. nach. Es wurde eine „Konfliktstelle” geschaffen, die kirchliche Mitarbeiter bei arbeitsrechtlichen Problemen beriet und begleitete. Ab 1988 fanden „Sommerakademien” zu politisch-soziologisch-philosophischen Themen statt. Der Arbeitskreis trat auf Kirchentagen in Erscheinung und ab 1988 zunehmend mit politischen Aktionen (Gottesdienste für Ausreisewillige und Proteste gegen deren Diskriminierung, Solidarisierung mit den Akteuren der Luxemburg/Liebknecht-Demonstration, Beteiligung an der Organisation der Friedensgebete in Leipzig, Überprüfung der Auszählung bei den Kommunalwahlen 1989 usw.). Im „heißen Herbst” 1989 engagierten sich die Mitglieder der „Solidarischen Kirche” in den neugegründeten Bürgerrechtsgruppen und der SDP. Die spezifische Aufgabenstellung des Arbeitskreises schien unwichtig bzw. überholt zu sein. Erst nach der vollzogenen Einheit - auch der Kirchen von Ost und West - entsann man sich des kirchenkritischen Ansatzes. Aber der Versuch, sich mit westdeutschen Gruppen zusammenzuschließen, mißlang. Die „Solidarische Kirche” löste sich 1990 auf.

Das vorliegende Buch enthält einige einführende Aufsätze, recht interessante Interviews mit ehemaligen Aktiven der „Solidarischen Kirche” aus Berlin, Erfurt, Magdeburg, Jena und Leipzig sowie eine Darstellung der kirchen- und gesellschaftskritischen Aktivitäten der verschiedenen Regionalgruppen. Auch die Vernetzung mit anderen Bürgerrechtsgruppen wird dargestellt. Ein Anhang dokumentiert Schriftstücke der Staatssicherheit über die „Solidarische Kirche”, zu deren „prominentesten” Mitgliedern übrigens Ibrahim Böhme zählte.



Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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