Annotation von Eberhard Fromm


 

Finkielkraut, Alain:
Verlust der Menschlichkeit
Versuch über das 20. Jahrhundert.

Klett-Cotta, Stuttgart 1998, 176 S.

In seinem essayistischen Versuch über das 20. Jahrhundert geht der französische Philosoph Alain Finkielkraut der Frage nach, was und wer denn der Mensch in diesem Jahrhundert gewesen sei. „Woher kommt beim Menschen der Wunsch, sich seiner Menschlichkeit zu entledigen?”, fragt er immer wieder und untersucht dazu die verschiedenen gesellschaftlichen, geistigen und individuellen Situationen, in denen der Mensch unseres Jahrhunderts lebt oder gelebt hat. Mit Michel Foucault und Primo Levi, mit Jean-Paul Sartre und Hannah Arendt und vielen anderen zeitgenössischen Denkern bemüht er sich um Antworten. Er taucht bis in die Antike zu Platon hinab, zitiert seine aufklärerischen französischen Vorfahren von Jean-Jacques Rousseau bis Alexis de Tocqueville und nutzt so die geistigen Potenzen aller Zeiten aus, um auf die gleichermaßen zeitlosen und brennend aktuellen Probleme der menschlichen Existenz zu sprechen zu kommen.

Der Autor kennzeichnet das 20. Jahrhundert als einen Zusammenprall zwischen der Würde des Menschen als absoluten Wert der Menschlichkeit einerseits und der Geschichte andererseits, bei dem dem Menschen nur ein relativer Wert zugebilligt wird. Der Kampf zwischen beiden habe in unserem Jahrhundert „zum blutigen Triumph der Geschichte über die Würde geführt”. Dabei mißt er dem Ersten Weltkrieg und seinen Folgen eine besondere Bedeutung bei. In diesem Krieg wurde zum erstenmal sichtbar, daß sich Vernunft und wissenschaftlicher Fortschritt von der Barbarei mobilisieren ließen: „Das zivilisierte Europa hat als Vollendung seiner geschichtlichen Mission die europäische Zivilisation verwüstet.”

Um die Menschlichkeit zu entwickeln, um den Menschen besser humanisieren zu können, müsse man ihn beunruhigen, ihn durch heilsame Erschütterungen aus seiner Abgesichertheit treiben. Das sei ein Ansatz im Sozialismus gewesen. Aber die brennende Frage bleibe, „warum der radikalste Wille, die Menschheit von ihren Ketten zu befreien, und ebenso deren Unterwerfung unter den unerbittlichsten Determinismus ein Universum von Konzentrationslagern hervorbringen konnte”.

Unter den vielen Arbeiten, die am Ausgang unseres Jahrhunderts bereits mit dem Anspruch erschienen sind, das 20. Jahrhundert zu beschreiben, zu bewerten, zu analysieren und zu be- oder verurteilen, nimmt dieser relativ schlanke Band - Jahrhundertbücher haben es sonst meist an sich, recht umfänglich zu sein - insofern einen besondern Platz ein, als er weniger beschreibt, darstellt oder wertet, sondern in ihm wird nachgefragt, nachgedacht, und der Leser wird an diesem Denkprozeß beteiligt. Wenn es ein Urteil gibt, dem man wohl sofort zustimmen kann, dann jenes, das der Autor gegen Ende seiner Überlegungen fällt: „Unser Jahrhundert ist schlechterdings das Jahrhundert des u n n ö t i g e n Le i d e n s, und dieses verlangt nicht nach einer Rechtfertigung durch die Dialektik, sondern nach Linderung durch ein möglichst sofortiges Eingreifen, das ke i n e B e d i ng u n g e n stellt.”



Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite