Rezension von Friedrich Schimmel


cover  

Gewohntes Gewirr

 

Wolf Wagner: Kulturschock Deutschland
Der zweite Blick.

Rotbuch Verlag, Hamburg 1999, 197 S.

 

Anhaltender Kulturschock Deutschland. 1996 veröffentlichte Wolf Wagner den ersten Blick auf dieses Phänomen, jetzt folgt der zweite Streich. Damals schrieb er „subjektiv”, diesmal, die Verhältnisse haben sich „kompliziert”, ist er mehr um ein objektives Verfahren bemüht. Allgemein zugängliche Daten, eigene Erhebungen („deutschlandrepräsentativ”) wurden zu einem beträchtlich anschwellenden Fragenkatalog ausgearbeitet. Der Kulturschock, so die Meinung des Autors, habe im Osten alles in kurzer Zeit verändert, tiefgreifend, alle wissen es, zumeist. Und „bis zu den Zündhölzern wurde beinahe alles westdeutsch, nichts blieb, wie es vorher war”. Das stimmt, dennoch kann das nicht die Wahrheit sein. Denn diese spart den inneren Menschen nicht aus. Gerade der aber kommt in den Befragungen zumeist viel zu kurz weg. Und wer einmal an einer schriftlichen oder telefonischen Befragung teilgenommen hat, weiß, wie unwirsch ein Befrager wird, wenn der Befragte eine Frage äußert, die nicht dem Muster der vorgegebenen Fragen folgt. Also: Der Befrager steht gern über dem fragenden Menschen. Und wenn er auf neuralgische Punkte im Alltag zu sprechen kommt, donnert und blitzt es sogleich bei Betroffenen. Im Kulturschock, der bis 1992 die Ost-Menschen geschüttelt haben soll, dominiere vor allem „kulturelle Kompetenz”, neben der Hochkultur insonderheit also alltägliches Miteinander. Und da gab es in der Tat zwischen Ost- und West-Menschen mancherlei gravierende Unterschiede. Oft schreiend komische (und tragisch ausgehende) Mißverständnisse, Erwartungen, Unterstellungen, Sehnsüchte und Kritik. Und in den Befragungen gingen diese Dinge ein als Fragen nach Opfern, nach Leistungen, Anerkennung, Toleranz, Geld, Besitz, Aussichten und Aussichtslosigkeit. Wolf Wagner ist bemüht, hinter die Ursachen der unterschiedlichen Haltungen zu kommen. Er stellt auch fest, daß viele Unterschiede gar keine sind, eher Verstellungen oder Trotzhaltungen. Weil aber die Befragung es so will, daß immer nur West und Ost (in der Regel gegen- und übereinander) befragt werden, kann es nicht ausbleiben, daß dieses grundfalsche Muster immer in die Irre führen muß.

„Zehn Jahre nach der Maueröffnung”, schreibt Wolf Wagner, „wird das neue System abgelehnt, das alte zunehmend verherrlicht”, woher weiß er das bloß so genau? Es gibt sie, die gegenseitige Abneigung und die pure Nicht-Anerkennung. Aber das gab es immer, und auch schon in der DDR und in der alten Bundesrepublik konnte man sehen, der lebte so und der andere, eingebunden in das Netz des Systems, lebte ganz anders. Immer gibt es Leute, die meinen, so muß es sein, und dieses und jenes ist falsch, genügt womöglich nicht den Anforderungen der Meinungsforscher. Durchaus läßt sich über Themen wie Händeschütteln und Karriereverhalten, Arbeitseinstellung oder Konfliktbereitschaft ein Vergleich zwischen Ost und West herstellen. Warum aber bohrt sich der Pfeil der Befragung immer in dieses Muster? Ließe sich denn keine Erfahrung schöpfen, wenn einmal quer durch die Länder, quer durch Berlin befragt würde? So aber wird alles, was Geschlechterverhältnisse, Sachlichkeit, „Aufstiegsblockaden und Gegenkulturen” betrifft, ins Schema der beiden Himmelsrichtungen gepreßt. Und dann blicken die Forscher und Befrager neugierig über die langen Listen ihres Fleißes, stellen fest, was sie längst ahnten. Ahnten sie doch aber einmal, ganz andere als immer nur diese Aha- und Oho-Trampelpfade dünner Befragung einzuschlagen, vielleicht, wer weiß, stellten sie überrascht fest, nicht zu glauben, alles sieht ja doch schon wieder ein bißchen ganz anders aus. So aber stochert man in Hier- und Dort-Segmenten, stellt pausenlos gegenüber, und, das ist hier eine Erfahrung, bemerkt, daß die westöstlichen Unterschiede allmählich verblassen. Also doch ein Anfang?



Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite