Rezension von Volker Strebel


„Wir sind nicht besser als sie!”

Marie Skálová: Die Schuld der Unschuldigen
Aus dem Tschechischen von Elisabeth und Reiner Kunze.
Edition Toni Pongratz, Hauzenberg 1999, unpaginiert

„Lebenserinnerungen” lautet der Untertitel der meisterhaft übersetzten Prosa von Marie Skálová, und sie konzentrieren sich vor allem auf deren Zeit der Kindheit und Jugend. Es war eine Kindheit in der ersten tschechoslowakischen Republik, und Marie Skálová, wiewohl das behütete einzige Kind tschechischer Eltern, verbrachte ihre Tage zumeist unter deutschen Spielgefährten im sogenannten Grenzgürtel. Manches von dem, was die kleine Marie bei den Deutschen kennenlernte und erlebte, erschien ihr sonderbar, anderes vertraut und angenehm. Sie vermied, sich beim Spielen schmutzig zu machen, um sich nicht mit dem groben, selbstgewebten Linnen abtrocknen zu müssen. Die Reime beim Ringelreihen wiederum sagten ihr zu, erinnerten sie an eigene, tschechische Verse.

Die kleine Marie trieb sich in der deutschen Mühle herum. Aus Bozena Nemcovás wunderschönem Roman Die Großmutter kennen wir den freundlichen Müller, der bei Skálová allerdings auch finster dreinblicken konnte und seinen Hosengurt zum Einsatz ließ. Wie in einer echten biedermeierlichen Idylle dräut es unter der scheinbar harmonischen Oberfläche, und Marie erlebt hautnah mit, wie der kleine Seppl zitternd eines Abends ankommt, weil seine Mutter, „die Seffl vom Häusl”, am Dachboden hinge. Eine Selbstmörderin aus innerer Not. „Sie war die erste Tote, die ich gesehen hatte, und es war das erste Begräbnis, das ich erlebte.” Marie Skálová beschreibt die Riten um die Tote und das Begräbnis nach drei Bettagen. „Der Seppl fragte: ,Glaubst du auch, daß die Mutter sich in einen Engel verwandelt hat und daß sie mir helfen wird und aufpassen wird auf mich?` - ,Klar`, sagte ich. ,Aber warum zeigt sie sich mir dann nicht?` - ,Das kann sie nicht, nur im Schlaf wird sie dir erscheinen, wenn du brav bist`.” Im späten Sommer sammelten die Kinder Pilze, „die wie Körner im Mohn wuchsen” - es war eine Zeit, schreibt Marie Skálová, in welcher „die Menschen ihr Herz auf den Händen trugen”. Spätestens jetzt versteht man, warum sich das Ehepaar Elisabeth und Reiner Kunze dieses Textes mit solcher Sorgfalt angenommen hat. Bereits von Jan Skácel kennt man Verse, ebenfalls von Reiner Kunze ins Deutsche hinübergetragen, die jenen gelten, „die im Herzen barfuß sind” - als Metapher für eine ungewöhnliche Sensibilität und Zartheit. Marie Skálovás Schuld der Unschuldigen betrifft nicht eine der beteiligten Nationen alleine, sondern läßt sich bei allen ehrlichen Menschen finden, die Opfer einer hysterischen Zeit geworden sind. Das Kind Marie leidet darunter, daß sich die ehemaligen Spielkameraden von ihr abwenden, weil sie Tschechin ist. Ein Knecht geht sogar mit der Heugabel gegen ihren Vater vor und hätte ihn beinahe getötet: „Früher, als dieser Kerl noch normal gedacht hatte, war er einer der Umgänglichsten und Lustigsten im Dorf gewesen. Jetzt war er bereit zu töten.” Marie Skálová wird als Fremdarbeiterin in das „Reich” verschickt und erlebt dort die Arroganz des Rassenwahns ebenso wie überraschend menschliche Gesten. Dann wendet sich das Schicksal, die Rote Armee befreit das Land, und das Leid reißt dennoch nicht ab. Opfer brutaler Vergewaltigungen sind nicht nur deutsche Frauen! Und tschechische Kommissare übernehmen die Dörfer. „Wir sind nicht besser als sie!” meint der Vater mit Blick auf das Unrecht, das jetzt den deutschen Mitbewohnern angetan wird. „Als der Müller von den Pferden Abschied nahm, war das eine herzzerreißende Szene. Dieser starke Mann, ein Kerl durch und durch, weinte, schluchzte und streichelte und streichelte die Luzi und den Fuchs. Und da sahen wir: Der Luzi standen Tränen in den großen Augen.”

Marie Skálová lebte zuletzt in Frauenberg bei Böhmisch Budweis, als sie 1996 im Alter von 71 Jahren verstarb. Sie hatte in ihrer Heimat als Grundschullehrerin, Eisenbahnschaffnerin und Erzieherin in einem Institut für Taubstumme gearbeitet. Marie Skálová war Unterzeichnerin der Bürgerrechtsbewegung CHARTA 77.



Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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