Rezension von Gisela Reller


Eine autobiographische Wahrheit

Michail Senkewitsch: Elga
Roman.
Aus dem Russischen von Alexander Nitzberg.
Grupello Verlag, Düsseldorf 1999, 159 S.

Dies ist ein sehr ungewöhnliches Buch. Ungewöhnlich aus mehreren Gründen: Zum einen wurde es bereits 1925 geschrieben und lag über siebzig Jahre lang unveröffentlicht in der Schublade; in Deutschland ist dies die Erstausgabe. Zum anderen agieren in diesen Memoiren bereits ermordete oder anderswie ums Leben gekommene Persönlichkeiten, Dichter meist und Politiker - als sei ihr Tod einfach nur ein Gerücht.

Da trifft man sich zum Beispiel heiter und fidel mit dem Wunderheiler Grigorij Rasputin, als wäre dieser nicht bereits 1916 grausam ermordet und in ein Eisloch in die Newa geworfen worden. Da reist man per Yacht nach Jalta (Seite 139: Jajla?), um Zar Nikolaus I. zu begegnen, der samt Familie bereits 1918 in Jekaterinburg von den Bolschewiken erschossen worden war. Und durch den ganzen Roman bewegt sich sehr lebendig der ehemalige Gardeoffizier und akmeistische Lyriker Nikolai Gumiljow, der wegen angeblicher Beteiligung an einer antirevolutionären Verschwörung erschossen wurde, 1921 - als Senkewitsch tief erschüttert über den Tod seines Freundes heimlich begann, seine belletristischen Memoiren zu schreiben.

Ganz ungewöhnlich auch die dämonische Buchheldin Elga Gustawowna, die in Wahrheit die bedeutende russische Lyrikern Anna Achmatowa (eigentlich Anna Andrejewna Gorenko,1889 bis 1966) ist.

„Elga! Elga!” sind die Anfangsworte eines gleichnamigen Gedichts von Nikolai Gumiljow, mit dem die Achmatowa von 1910 bis 1918 verheiratet war. In diesen Versen wird die Grausamkeit der altrussischen Großfürstin Olga geschildert, die zum Beispiel Abgeordnete einer Gesandtschaft im Dampfbad ersticken ließ.

Anna Achmatowa, sie tritt in wahrer Gestalt nur im Kapitel III auf - am 30. November 1921 im Agronomischen Institut in Petrograd: als mondäne Gastgeberin Senkewitschs, „mit einem strengen danteschen Frauenprofil ...” In „Statt eines Vorworts” schreibt Michail Senkewitsch, daß er die Achmatowa einst mit diesem Buch bekannt gemacht habe. Sie soll gesagt haben: „Welch unwahrscheinliche Wahrheit.” Der Autor und die Romanheldin haben einander - scheint's - verstanden. Dem Leser wird das Verstehen dieses phantastischen Labyrinths nicht ganz so leichtfallen.

Senkewitsch hat Anna Achmatowa zur Femme fatale Elga hochstilisiert, „in ihrer ganzen Haltung fühlt man etwas Machtvolles, Raubtierhaftes ...” Zusammen mit dem toten Dichter Gumiljow und dem toten Wunderheiler Rasputin wird sie zum lebenden Symbol einer Epoche des Terrors und der Orientierungslosigkeit.

Michail Senkewitsch war ein enger Freund und literarischer Mitstreiter der Achmatowa. Seit der Ermordung Gumiljows hatte er immer weniger Wert auf das Erscheinen eigener Gedichte gelegt, sich immer mehr auf Übersetzungen fremder (meist amerikanischer) Lyrik verlegt. Senkewitsch, einer der wenigen „echten Akmeisten” - mit Gumiljow gehörte er zum innersten Kern der „Zeche der (akmeistischen) Dichter” -, wurde im Gegensatz zu seinen Freunden Wladimir Nabut, Gumiljow, Mandelstamm (warum mit zwei m?) nicht politisch verfolgt. Zusammen mit Anna Achmatowa blieb er am Leben. Vielleicht hat ihn sogar die sparsame Veröffentlichung eigener Gedichte das Leben gerettet ... Doch eine ständige Angst muß sein (Über)Leben begleitet haben, was auch auf vielen Seiten dieses Buches - das der Autor selbst eine „autobiographische Wahrheit” nennt - zum Ausdruck kommt. Michail Senkewitsch, für den die Erschließung der amerikanischen Dichtung für die russische Literatur zum Lebenswerk wurde, starb 1973, siebenundachtzigjährig.

Ungeheuer reizvoll Lebende und Tote gleichermaßen wie Lebendige agieren zu lassen. Durch die Typhuspsychose oder Persönlichkeitsspaltung oder Schizophrenie des Autors - „ganz gleich wie meine Krankheit genannt wird” - begegnen sich und uns in diesem Meisterwerk viele aufregende Persönlichkeiten, die sich so nie hätten begegnen können.

Michail Senkewitschs Elga erschien als Band 6 der Chamäleon-Reihe. Diese Reihe wird von Alexander Nitzberg (der auch selbst Gedichte schreibt) herausgegeben und übersetzt. Alle bisher erschienenen Bände sind echte literarische Entdeckungen.



Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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