Rezension von Karl-Heinz Arnold


Nur wer im Wohlstand lebt ...

Ulrich Schmid: Der Zar von Brooklyn
Roman.
Eichborn Verlag, Frankfurt/M. 2000, 516 S.

Ulrich Schmid, Journalist, Jahrgang 1954 aus Zürich, promovierter Historiker, hat bei Eichborn Berlin seinen ersten Roman veröffentlicht. Er spielt in Rußland und in den USA, hauptsächlich in Moskau und New York. Der Autor ist milieu- und sachkundig. Als Korrespondent der „Neuen Zürcher Zeitung” (NZZ) hat er von 1991 bis 1995 in der russischen Hauptstadt gearbeitet, in gleicher Funktion war er bis 1999 in Washington tätig, danach ging er als Berichterstatter nach Peking.

In seiner Moskauer Zeit ist ein Sachbuch entstanden, Gnadenlose Bruderschaften, erschienen im NZZ-Verlag. Es beschreibt den Aufstieg der russischen Mafia, einer nach Zielen, Methoden und Einfluß in der früheren UdSSR nur in Ansätzen vorhandenen amorphen Organisation. Das Buch könnte man als eine Art Vorstudie für den nun vorliegenden Roman ansehen: Der Zar von Brooklyn, er nennt sich Markow und ist als unscheinbarer Geschäftsmann getarnt, hat sich gegen Ende der Sowjetunion mit reichlich hundert Millionen Dollar aus Moskau abgesetzt, Schwarzgeld, das seine KGB-Genossen organisiert hatten, falls eine kleine Spitzengruppe von Politikern und Geheimdienstlern das Land rasch verlassen müßte. Allein Markow, der die Millionen listig in ein Steuerparadies transferiert hat und in die USA umgesiedelt ist, hat den Zugriff.

Sein Gegenspieler, der erst ganz zum Schluß in persona auftaucht, heißt Gubin, war ebenfalls ein leitender Mann beim KGB, ist nun Chef einer mafiosen russischen Firmengruppe und will den kleinen Notgroschen für sich haben. Also wird ein nichtsahnender junger Journalist, Alexander Swetkow, mit einem Reportageauftrag nach New York geschickt, um dort in Little Odessa, wo einige hunderttausend Immigranten leben, das mehr oder weniger traurige Schicksal von Zuwanderern wie Markow zu erkunden. Auf diese Weise kommen die Moskauer Genossen zwar nicht an brauchbare Informationen geschweige denn an das Geld, doch der Autor Ulrich Schmid hat Gelegenheit, seinen Journalisten-Kollegen Zwetkow allerlei erleben, reflektieren, beobachten zu lassen. So kommt eine Ich-Erzählung mit bemerkenswerten Vorzügen zustande.

Schon auf den ersten Blick überzeugt die sprachliche Qualität. „Serjoscha pfiff leise vor sich hin, als er mich zum Flughafen fuhr, so leise, daß ich hinhören mußte und mich über den Scheibenwischer ärgerte, der den Takt nicht hielt. Serjoscha liebt alle Regentage, immer, auch die grauesten. Ich mag Regen nur beim Nachhausekommen und wenn ich gut geschlafen habe. Seine Munterkeit war niederschmetternd. Der Regen war trostlos, sonst nichts, aber was willst du machen, wenn dir einer beweist, daß Schlechtes gut wird, wenn du nur die richtige Einstellung hast? Er beugte sich zur Scheibe vor, so daß ihn nur noch Zentimeter vom Unwetter trennten, und schaute so zufrieden in die Höhe wie ein Wissenschaftler auf todbringende Mikroben. Unter den Regentropfen, die auf der Scheibe zu fasrigen Ringen zerplatzten, wurde sein Gesicht hell und leicht.”

Die Auflösung mehrerer Rätsel, die dem Leser im Verlaufe der Handlung wie zufällig aufgegeben werden, läßt lange auf sich warten. Damit und vor allem durch mehrere Gewalttaten erfüllt der Roman die Anforderungen eines Krimis. Es wäre jedoch verfehlt, ihn in diese Schublade stecken zu wollen. Das Buch ist ein Gesellschaftsroman sui generis. Seine Eigenheit besteht darin, daß er eine Fülle von Eindrücken, genau beobachteten Einzelheiten und Charakteristika des täglichen Lebens sowohl aus Moskau als auch aus New York vermittelt, die in ihrer scheinbar absichtslosen Gegenüberstellung und Abfolge zwei Welten mit ihren Vor- und Nachteilen, aber auch Ähnlichkeiten zeigen. Dem Leser wird ein facettenreicher Spiegel zweier Gesellschaften und Kulturkreise präsentiert, ein Bild der Verschiedenheiten und, nicht selten, mancher Übereinstimmung im Guten wie im Bösen, auch der Annäherung, wenngleich ohne die Chance, jemals Deckungsgleichheit zu erreichen (die sich in Deutschland in bezug auf die USA leider nicht nur in Umgangssprache und Trivialkultur allmählich anzubahnen scheint).

In einer glänzend geschriebenen Passage beispielsweise werden die monströsen Dicken, die unglaublich Fetten, die Hochübergewichtigen geschildert, die zum Alltagsbild der USA gehören, und mit den „normalen” Dicken in Rußland verglichen: „Die breite Marktfrau; der von Schnaps und Bifschteks aufgeschwemmte Beamte; die runde Etagenfrau, unbeweglich geworden vor lauter Tee und Gebäck und Sitzen. Aber was sind sie gegen diese Amerikaner? Unser Apparatschik ist prall gefüllt, seine Schwarte zittert vor Spannung und Kraft, und eisenhart wölbt sich der Schenkel. Alles an ihm ist konzentrierte Masse, zusammengehalten von einem Zentrum und einem Willen. In Amerika hat der Umfang die Schwerkraft längst besiegt. Das Fleisch strebt weg vom Knochen und wuchert in die Luft ...”

Der Autor, weit davon entfernt, das eine Land gegen das andere ausspielen zu wollen, sieht gleichsam als neutraler Beobachter aus der Schweiz die Schwächen und Stärken des einen wie des anderen. Er kennt - und nennt wie zufällig in einem Nebensatz - „die ewige russische Hoffnung auf bessere Zeiten”. Er beweist, daß er all die erstaunlichen, entnervenden, schon fast unauffällig gewordenen Unzulänglichkeiten des exsowjetischen, nun russischen Alltags jahrelang minutiös beobachtet hat. Er spricht darüber aus dem Mund seines Swetkow ohne Häme, sachlich, mit einem leicht spöttischen und zugleich verzeihenden Unterton. Immer wieder bringt Ulrich Schmid seine Zuneigung zu Mütterchen Rußland und ihren Kindern zwischen den Zeilen zum Ausdruck, durchaus verständlich wohl nur für den, der dieses Land und seine Menschen kennengelernt hat, ein Land, das einmalig ist und doch wiederum in manchem den USA ähnelt. Das Kennenlernen beider Welten und diese Sicht dürften den Autor zu seinem Roman inspiriert haben, der in diesem Punkt eine literarische Besonderheit darstellt. Schmid schildert die rüden Methoden der Moskauer Mafiosi, die den Journalisten Zwetkow gesprächig machen, obwohl er kaum etwas weiß, und er schildert die rüderen Praktiken der russischen Mafiosi in Little Odessa, die von den US-Gangstern gelernt haben, ein Menschenleben zu mißachten. Man merkt das Bedauern des Autors über manche Annäherung des Ostens an den Westen.

Ulrich Schmid hat von den großen russischen Erzählern gelernt. Er trifft ihren ruhigen Ton, bringt das Umfeld der Menschen zur Geltung, zeigt Liebe zum Detail, verzichtet auf jede Aufgeregtheit und jeden unnötigen Kontrast. Der Roman ist breit angelegt, an einigen Stellen vielleicht etwas zu breit. Aber ist die Wolga denn zu breit? In den letzten, relativ kurzen Kapiteln erfährt der Leser, was er bestenfalls geahnt, eher überhaupt nicht gemutmaßt hat. Hier wird mit deutlich beschleunigtem Tempo die fällige Auflösung eines Kriminalfalls geboten. Der Zar von Brooklyn ist tot, die hundert Millionen aus seinem Schatz bleiben verschwunden. Vielleicht nur einstweilen.

Und es zeigt sich, wie die Verhältnisse den Menschen beeinflussen, ja verändern: Der etwas naive, bis dato halbwegs rechtschaffene Redakteur Zwetkow hat durch seine Begegnung mit schwarzem Geld und nicht ganz legaler Macht begriffen, daß man nur im Wohlstand angenehm lebt. So bietet er dem Ex-KGB-Natschalnik Gubin, jetzt Vorstandsvorsitzender, seine Dienste an: „Ich bin willig und verläßlich. Ich bin erfahren und klug. Ich bin geprüft. Ich bitte um Aufnahme.” So bleibt die leise Ironie, die sich in feiner Zurückhaltung durch den Roman zieht, bis zum Schluß erhalten.



Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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