Rezension von Hans-Rainer John


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Der Traum, jemand anders zu sein

 

Michael Pye: Der sechste Mann
Roman.

Aus dem Englischen von Barbara Schaden.
Econ-Verlag, München 1999, 384 S.

 

Kriminalromane sollten mit logischer Strenge und Klarheit aufgebaut sein, ihre Qualität erweist sich an der psychologischen Durchdringung. Es gibt noch andere Merkmale. Federico Fellini rühmte an Georges Simenons Büchern nicht nur die Landschaften und Personen, die Atmosphäre, Farben und Gerüche, sondern er lobte auch „den unaufhaltsamen Fluß seiner ... Erinnerungen, eine wohlige Wärme, ein Stück warmer Menschlichkeit”. Sie erschienen ihm wie „ein langer, fließender, wohltuender Traum, der dem Leben gleicht und uns vielleicht helfen will, das wirkliche Leben zu deuten, zu lieben und zu leben”. Von dieser Art Lektüre ist Der sechste Mann nicht. Es ist einem nicht wohl bei der Lektüre. Mit allem, was ich schätze - Logik, Realismus, Psychologie -, ist dem Buch nicht beizukommen, es ist stilistisch uneinheitlich, und am Ende bleiben mehr Fragen als am Anfang: Warum nur, warum, warum?

Martin Arkenhout (17), ein holländischer Austauschschüler, trampt da in Amerika mit dem einheimischen Studenten Seth Goodman. Seth wird auf dem Highway schwer verletzt, und Martin, statt Hilfe zu holen, schlägt ihn tot, nimmt Ausweis und Kreditkarten an sich, wirft den Leichnam Alligatoren vor, nimmt die Identität des Toten an, belügt dessen Eltern und die seinen. Warum? Eine Schreckreaktion? Angst, als Ausländer unschuldig eines Verbrechens verdächtigt zu werden? Spekulation, einen leichteren Zugang zur Universität zu bekommen? Wer weiß. Aber einmal auf den Geschmack gekommen, träumt er nun davon, immer jemand anders zu sein, immer wieder ganz von vorn anzufangen, sich immer ein völlig neues Leben zu erfinden. Er sucht neue Opfer, bringt sie auf satanische Weise um, zerstückelt die Leichen bis zur Unidentifizierbarkeit.

Nach zehn Jahren ist er bei Nummer sechs angekommen. Es handelt sich um den Kunsthistoriker Christopher Hart. Dessen Vorleben freilich hat er schlampig recherchiert. Hart hatte, was Martin entging, in England wertvolle Gemälde mitgehen lassen, das Museum schickt ihm nun den Kurator John Costa nach Portugal hinterher. Wir sind auf Seite 70. Hier endet der emotionslose Bericht, und es wechselt der Stil.

Costa wird als Ich-Figur zum Erzähler der weiteren Ereignisse, der sich mitunter in direkter Ansprache an den Leser wendet (konsequent ist das freilich auch nicht durchzuhalten, denn Costa ist nicht an allen beteiligt), und bringt im übrigen sein eigenes Umfeld mit ein. Da ist die Ehe mit Anna, offenbar frustrierend, die Gründe bleiben offen. Da ist der aus englischer Emigration nach Portugal zurückgekehrte Vater, der in dem Moment stirbt, in dem er ihn dort aufsucht. Der Vater, so erfährt er nun vom Polizisten Mello, hatte nicht die vorgegebene heroische Vergangenheit als Widerstandskämpfer, sondern eine anrüchige, er hat Kameraden an die Geheimpolizei Salzars verraten, aber Mello, selbst betroffen, war bereit zu vergeben. Da ist auch noch die Geschichte der Nachbarsleute Arturo und Zulmira - die Frau stirbt, der Mann will es nicht wahrhaben, kommt wegen unterlassener Hilfeleistung ins Gefängnis.

Darüber wird der eigentliche Auftrag vernachlässigt: Costa sollte Hart beschatten und mit ihm ohne Einschaltung der Polizei verhandeln. Er nutzt jeden Vorwand, die Erledigung und Rückkehr nach London aufzuschieben, legt eine irritierende Gleichgültigkeit und Geduld an den Tag, ist ständig am Grübeln - ob er das Haus des Vaters verkauft oder nicht, ob er seine Ehe bewahrt oder lieber mit der Anwältin Maria schläft, die sich inzwischen aus unerfindlichen Gründen Hart an den Hals geworfen hat, auch die Vergangenheit Portugals beschäftigt ihn stark. (Offenbar hatte jeder zehnte Portugiese zu irgendeinem Zeitpunkt der Geheimpolizei Bericht erstattet oder Personen denunziert, die nicht zur Messe gegangen waren oder in der Öffentlichkeit rote Hemden zu tragen wagten.) Eine Ohnmacht und Lähmung liegt über der Handlung, von Rasanz und Spannung keine Spur.

Es kommt auch zu irrationalen Situationen: Die Polizei, inzwischen dem vielfachen Mörder auf der Spur, informiert vor ihrem Zugriff sowohl Costa als auch Maria über die Identität von Arkenhout/Hart, so daß Maria ihn warnen und zur Flucht antreiben kann. Dann wird eine Leiche gefunden, weitgehend verbrannt ...

Pye ist Brite, die meiste Zeit hat er in New York und in Portugal gelebt, dort wohnt er heute in der Nähe von Coimbra. Es fehlt ihm auch bei seinem zweiten Roman nicht an erzählerischem Talent oder sprachlicher Ausdruckskraft. Seine Schwäche ist das mangelhafte Endringen in seine Figuren, ihr Denken und Handeln, das geringe Interesse für ihre Motive. Wie Anna und Maria aussehen, was ihre Stärken und Schwächen sind, worin sie sich unterscheiden, worin der Ehekonflikt Costas besteht - man erfährt es an keiner Stelle. Das macht die Entscheidung Costas uninteressant. Auch seine lähmende Gleichmütigkeit findet keine Erklärung - er verzögert sowohl seinen Zugriff auf den Täter als auch seine Rückkehr nach London, und selbst in zugespitzter Situation befragt er Mello immer wieder nach seinem Vater, während Arkenhout/Hart noch immer nicht dingfest gemacht ist, Maria sich in höchster Lebensgefahr befindet und der halbe Distrikt in einem Großfeuer auflodert. Auch die Handlungsziele von Arkenhout/Hart bleiben im Dunkeln, denn der ständige Identitätswechsel, verbunden mit Mord und Totschlag, kann doch nur eine krankhafte Obsession sein, aber angesichts notwendig dauerhafter Selbstisolierung kein immerwährendes Lebensziel. Wenn da erklärend steht, „Er verkörperte das, was sich in den erotischsten Ängsten der Menschen herumtrieb; wenn sie es nur wüßten”, ist das so verschwommen und wenig erhellend, wie das ganze Buch auf mich gewirkt hat.



Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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