Rezension von Helmut Hirsch


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„Zerklärungen und skandaleuse Excursionen”

 

Wolfgang Promies (Hrsg.): Lichtenbergs Hogarth
Die Kalender-Erklärungen von Georg Christoph Lichtenberg
mit den Nachstichen von Ernst Ludwig Riepenhausen
zu den Kupferstich-Tafeln von William Hogarth.

Carl Hanser, München 1999, 355 S.

 

Brotarbeiten hat er seine Bildbeschreibungen genannt, im Briefwechsel mit Freunden und Bekannten eher abschätzig von „Zerklärungen und skandaleusen Excursionen” gesprochen. Georg Christoph Lichtenberg war von den Bildern und Blättern des englischen Satire-Zeichners William Hogarth hingerissen, seit er in England diesen derb-ironischen Illustrator menschlicher Leidenschaften und Torheiten ausgiebig studiert hatte. Seitdem galt Hogarth ihm als „alter Freund”, und auch Lichtenberg trieb sein gedankliches Licht- und Schattenspiel mit den allzeit turbulenten menschlichen Existenzen. Es war eher der treffliche Maler und weniger der Karikaturist, den er in Hogarth sah, der wie kaum ein anderer vor ihm das Animalische im Menschen geschildert hatte. Die menschliche Natur kennenzulernen, so wie Hogarth sie kannte und abbildete, „ist kaum möglich, ohne die vom Affen zugleich mit zu studieren, des Lichts wegen, das sich diese Kenntnisse wechselweise leihen” (Lichtenberg).

Von 1783-1795 schrieb Lichtenberg seine witzigen Erklärungen zu Hogarths Blättern, beißende Kommentare und Geschichten mit Vorder- und Hintergrund, die er im „Göttinger Taschen-Calender” veröffentlichte. Teile dieser zumeist knappen Texte erweiterte er später zu den berühmten „Ausführlichen Erklärungen”. Diese wurden oft ediert und sehr gerühmt, unter ihnen so wunderbare Stücke wie „Die Heirat nach der Mode” oder „Der Weg des Liederlichen”. Die Vorarbeiten dazu, insgesamt 28 Einzelblätter und mehrere Bilderzyklen, werden in diesem von Wolfgang Promies vorbildlich edierten Band Lichtenbergs Hogarth erstmals vollständig vorgestellt. Da seinerzeit das kleine Format des Taschenkalenders nur kleine Abbildungen ermöglichte, ließ Lichtenberg von Ernst Ludwig Riepenhausen vergrößerte Auszüge aus Hogarths Blättern in Kupfer stechen. Was an den Bildern dabei fehlte, aus Mangel an Platz, ergänzte der brillante Schilderer Lichtenberg mit seinem Wortwitz. Nicht so erzählend, gar breit episch wie die späteren „Ausführlichen Erklärungen”, sind diese frühen Kalender-Erklärungen pointierte und pikante kleine Prosawerke. Als Lichtenberg 1794 mit der „Ausführlichen Erklärung der Hogartischen Kupferstiche” beginnt, erinnert er sich, der erste gewesen zu sein, „der sich auf diesem Wege versucht hat”.

Riepenhausen nahm die schwierige Aufgabe an, er verkleinerte, und er bot, dem Umkehrverfahren des Kupferstichs gemäß, alles seitenverkehrt. Der Anschaulichkeit schadete das nicht im geringsten. Der Herausgeber Wolfgang Promies, der ebenso im Hanser Verlag Lichtenbergs Schriften und Briefe herausgegeben hat, meint dazu: „Lichtenberg bringt es fertig, die gestaltungsreichen und handlungsträchtigen Kupfer von Hogarth mit Worten zu vergegenwärtigen und mit Hilfe Riepenhausens an ausgesuchten Köpfen dingfest zu machen. Wenn man dieses Unternehmen einmal für sich betrachtet - und das sollte man tun -, ist daraus ein Pandämonium entstanden, das bei Hogarth noch nur in den Nischen kauert und lauert.”

Und was da alles lauert und kauert. Alles direkt, nichts verschlüsselt, pure Zeichnung, gelesen von einem Mann, der sehen konnte. Freilich sieht Lichtenberg alles mit seinen Augen, streut seine Erinnerungen ein, gibt persönliche und historische Reminiszenzen hinzu. In seiner Vorrede „Über die Hogarthischen Kupferstiche” gibt Lichtenberg zu bedenken, daß er sich nie sklavisch an die Blätter halten werde. Es genügte ihm, „wenn er einige Züge aus den Werken dieses unsterblichen Mannes, die nicht jedem verständlich sein mögen, hier aufsammelt und erklärt, er wird größtenteils ohnehin nur solche wählen, die auch noch, ohne die Abbildung dabei zu haben, unterhalten können”.

Hogarth und Lichtenberg zeigen die schändlichen Wirkungen des Alkohols oder die Langeweile in den Zuhör-Gesichtern während einer Vorlesung. Der Jahrmarkt von Southwark bietet buntes, wildes Treiben, ganz gegensätzliche Geister und sonderliche Figurationen, und es werden auch die kleinsten Details nicht ausgelassen, zum Beispiel Aushängeschilder, „also ein Bild auf einem Bilde”. „Der aufgebrachte Musiker” und „Der Musiker in Wut” geben köstliche Erscheinungen preis. Lichtenberg: „Von diesem Blatt pflegt man zu sagen: man würde taub, besser, man höre sein eigenes Wort nicht, wenn man es ansähe.”

Überall heftige, derbe, aufgewühlte sinnliche Atmosphäre, pralles Leben. Ein kleiner französischer Tambour, der „Raritäten austrommelt”, ein Klempner, „wohl zu merken, ein Londonscher, wo immer zehn Hämmer gegen einen in Deutschland ihr einwiegendes Spiel treiben”. An solchen Sentenzen wird große Welt (London) mit kleiner Welt (Göttingen) verglichen. Aus jedem Funken, den die Handwerker aus ihrem Material schlagen, spricht die Stimme des begeisterten Englandfahrers Lichtenberg. Auch ganz Selbstverständliches wird bei passender bildlicher Gelegenheit eingestreut: „Kinder müssen sein, und also auch Kinderlärm, so gut wie Hunde und Hundelärm.”

Man lernt in diesen Bildern und Texten nicht nur Hogarth kennen, Lichtenberg selbst ist es, der sich unentwegt ins Spiel bringt, von sich und seinen Erfahrungen im Leben erzählt. „Die Folgen der Emsigkeit und des Müßiggangs” werden in zwölf Blättern vorgestellt. Lichtenberg hält sie, im Gegensatz zu den anderen, für die weniger gelungenen des Hogarth. Der habe sich dafür sogar entschuldigt, um diese Blätter mit einem geringeren Preis „in die Hände zu bringen, für welche sie hauptsächlich bestimmt sind, Handwerksleuten und Fabrikanten”. Ironie über Ironie, Nähe und Distanz. Köpfe über Köpfe. Zierlich und grotesk, genießerisch oder großspurig. Lamentierend oder prostituierend, keck und bieder, lachend oder gähnend. Mitunter größere Grüppchen, weit den Mund aufreißend, so daß man das schüttere Zahnwerk sieht. Viel Bewegung in der Stille, theatralisch fast immer; mal scheint es eine Operette im Hintergrund zu sein, dann wieder erinnert alles an ein maliziöses Kammerstück. Gesichter, auch das war eine ganz persönliche Lust und Leidenschaft Lichtenbergs, die er gern und oft auf Tapeten oder Vorhängen erfand und studierte, selbst sogar mit heftigen Freuden zeichnete, oft noch grotesker als sein „alter Freund” Hogarth. Auch eine „schlafende Versammlung” ist hier zu bewundern. In einer Dorfkirche, „worin ein Teil der Gemeinde, durch den Prediger eingewiegt, schläft”. Natürliche Erscheinungen hier, Torheiten dort. „Das Hahnen-Gefecht” hält Lichtenberg eher für eine Nebenarbeit des Künstlers, bemängelt bei dieser Gelegenheit, daß ein Pferderennen in der Kollektion des Hogarth nicht aufzufinden ist.

Zu den heftigsten Blättern dieses herrlichen Buches gehören jene, die eine „Parlaments-Wahl” vorstellen. Lichtenberg weiß um die Wichtigkeit der Stimmen und bemerkt: „Hier kommen sie nun, Erkaufte und Unerkaufte, Blinde, Lahme, Krüppel, Wahnsinnige und Sterbende, und geben ihre Stimme, oder doch so viel davon, als sie können, und überlassen auch hier noch das übrige dem, der sie leitet.”

Ein großes Bilder- und ein generöses Lese-Buch, also ein wichtiges für alle Zeiten.



Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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