Rezension von Gisela Reller


Eine russische Agatha Christie?

Alexandra Marinina: Auf fremdem Terrain
Anastasijas erster Fall.
Roman.
Aus dem Russischen von Felix Eder und Thomas Wiedling.
Argon Verlag, Berlin 1999, 288 S.

dies.: Der Rest war Schweigen
Anastasijas zweiter Fall.
Roman.
Aus dem Russischen von Natascha Wodin.
Argon Verlag, Berlin 1999, 262 S.

Alexandra Marinina heißt eigentlich Marina Aleksejewa. Die promovierte Juristin arbeitete zwanzig Jahre lang im Moskauer Juristischen Institut des Innenministeriums, zuletzt im Rang eines Oberstleutnants der Miliz. Sie - 1957 in Leningrad geboren - schreibt seit 1995. 1998 hat sie sich aus ihrem Beruf zurückgezogen, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. Fallanalysen und Täterprofile, Aktenstudien und daraus abgeleitete haarscharfe Schlußfolgerungen - eine bessere Schule kann kein Krimiautor durchlaufen. Die Marinina, so ist der russischen Presse zu entnehmen, hat das russische Riesenreich mit ihren zwanzig Kriminalromanen in einer Auflage von über 15 Millionen Exemplaren bereits erobert. Nachdem sie von Frankreich und Italien entdeckt wurde, ist sie jetzt dabei, Deutschland für sich zu gewinnen.

Starkommissarin ihrer Bücher ist Anastasija Pawlowna Kamenskaja, eine junge Frau von 33 Jahren, Volljuristin, leitende Beamtin bei der Kriminalpolizei, im Rang eines Majors der Miliz, eine, die ein phänomenales Gedächtnis für Fakten hat, furchtbar viel raucht und Unmengen Kaffee trinkt, eine, die kein Naturmensch ist, von Hauswirtschaft nichts versteht, manchmal weint und öfters Rückenschmerzen hat, eine, die gerne lange schläft, nebenher als Übersetzerin arbeitet - sie beherrscht vier Fremdsprachen -, um ihr Milizgehalt aufzubessern, eine, die keinen großen Wert auf modische Kleidung legt, die Größe 40 trägt: Oberweite vierundneunzig, Taille dreiundsechzig, Hüfte achtundachtzig, Größe etwa 1,78, Gewicht um die sechsundsechzig Kilo. Die Autorin schwankt, ob ihre Heldin äußerlich eine graue Maus ist oder eine Schönheit - wenn sie sich zurechtmacht. Ganz tief im Innern ist die Verbrecherjägerin ganz schön kalt („Dauerfrost und große Ödnis”, Band 1), aber nun auch wieder nicht sooo kalt, denn seit zehn Jahren liebt sie einen Professor, den sie aber nicht heiraten will; außerdem spricht für eine nicht abgestumpfte Natur, daß es für sie „nichts Wichtigeres gibt als ein Menschenleben”, Band 2, kurzum: Nur intellektuelle Arbeit interessiert die Hochbegabte. Jammerschade, daß die Marinina ihre Heldin mit keinem einzigen Quentchen Humor ausgestattet hat. Schon deshalb ist sie keine russische Agatha Christie.

Man kann gespannt sein, ob der russische weibliche Kommissar so einprägsam ersonnen ist wie, sagen wir, Sherlok Holmes, Pater Brown, Poirot oder Maigret. Ganz sympathisch schrullig kann sie jedenfalls sein. Vielleicht geht die Kommissarin mit dem langen Namen als „Nastja” in die Kriminalroman-Geschichte ein. Denn da die Autorin eine ausgewiesene Vielschreiberin ist, besteht für ihre Leser durchaus die Chance, süchtig nach ihr zu werden. (Man denke nur an die erfolgreichen Endlos-Serien des Fernsehens.) Band 3, Mit verdeckten Karten, ist vom Verlag jedenfalls als weitere Hochspannungsliteratur angekündigt.

Hochspannungsliteratur? In Anastasijas erstem Fall ermittelt Nastja auf fremdem Terrain - wo sie eigentlich zur Kur weilt. Natürlich geht es um Mord - bei weitem nicht nur um einen. Durch einen ungeplanten Toten kommt Nastja einer Bande auf die Spur, die auf Bestellung pornographische Videoaufnahmen mit teilweise geplantem tödlichem Ausgang herstellt. Fies ist das Ganze, brutal, ekelerregend - wie man den mafiösen Alltag des neuen Rußland schon aus den Medien kennt. Und spannend bis zur letzten Seite, als der verblüffte Leser erfährt, wer der Chef der Bande ist. Im zweiten Fall gerät Dascha, die schöne Freundin von Nastjas Halbbruder Alexander, zufällig ins Visier von Kriminellen, die militärtechnische Informationen in die USA verkaufen. Diesmal hilft der einflußreiche Chef einer Mafia-Bande Nastja bei der Aufklärung, weil die Majorin der Miliz für ihn „geradezu einzigartig” ist. Und sie kann ihrer Umgebung (und dem Leser) durchaus Hochachtung abgewinnen, wenn sie als kombinatorische Begabung mit Spürsinn das außerordentlich rätselhafte Geflecht der kriminellen Beziehungen entwirrt. Trotzdem ist sie kein Superweib, paßt weder ins westliche Klischee, noch haftet ihr nostalgisch Sowjetisches an.

Warum eigentlich ließ es sich der Verlag entgehen, die Bücher als das zu bezeichnen, was sie wirklich sind: als Kriminalromane?

Gut wäre - am Anfang aller Bücher - eine Namensliste der handelnden Personen, einschließlich der vielen Koseformen. Wer kann sich schon auf Anhieb Namen merken wie Rosa Scharafetdinowna Gabdrachmanowa oder Gurgen Artaschesowitsch Ajrumjan?

Eine Peinlichkeit bei den Übersetzungen sei angemerkt: Dem Chef Nastjas, dem rundlichen Viktor Alexejewitsch Gordejew, haben seine Leute den zärtlichen Spitznamen „Kolobok” gegeben, was wörtlich übersetzt „kleines rundes Brot” heißt. Die Übersetzer des ersten Bandes entschieden sich bei der Übersetzung für „Brötchen”. Einverstanden. Aber im zweiten Band heißt der rundliche Gordejew mit einemmal „Knüppelchen” - weil dieser Übersetzer es ganz offensichtlich versäumt hat, vor seiner Übersetzung den ersten Band zu lesen. Man kann also gespannt sein, welchen Spitznamen der Übersetzer des Bandes 3 dem Chef der Abteilung zur Bekämpfung schwerer Gewaltkriminalität verpassen wird ...



Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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