Rezension von Licita Geppert


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Der Pharao ist tot - es lebe der Pharao

 

Bob Brier: Der Mordfall Tutanchamun
Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Schuler.

Piper Verlag, München 2000, 351 S. mit 33 Abbildungen

 

Dieses Buch ist eines der spannendsten Geschichtsbücher der letzten Jahre. Es handelt sich um keinen Kriminalroman, obwohl es sich so spannend liest wie ein solcher. Es ist auch keine reine Geschichtsabhandlung, obwohl der Autor mehrere Jahrhunderte ägyptischer Geschichte umreißt und insbesondere die Jahrzehnte vom Machtantritt Echnatons bis zum Tode seines Sohnes Tutanchamun (1350-1325 v. Chr.) detailliert schildert. Ebensowenig liegt uns hier ein Autopsiebericht vor (Bob Brier ist Paläopathologe), obwohl die Spurensuche akribisch auch anhand der Mumie bzw. der über sie bereits vorhandenen Untersuchungsberichte erfolgt. Selbst die Ausgrabungsgeschichte erweist sich als wesentlich bei der Deutung aller Details. Dem Autor ist eine glänzende Synthese aus all diesen Spezialgebieten gelungen, die mit psychologischem Einfühlungsvermögen in die historischen Umstände zu einer dichten, absolut nachvollziehbaren Aufklärung des Falles führen.

Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die (nicht vom Autor selbst entwickelte) These von der Ermordung des Kind-Pharaos Tutanchamun. Anhand von Röntgenbildern der Mumie kann der erfahrene Pathologe deutlich die Verletzung an einer ungewöhnlichen Stelle am Hinterkopf des Toten erkennen. Der Leser vermag dank der vielfältigen Abbildungen im Buch seinen anatomischen Beschreibungen zu folgen und erfährt in einem Exkurs gleichzeitig viele Einzelheiten über die Kunst (und auch die Nachlässigkeiten) der Einbalsamierung. Der Schlag auf den Hinterkopf konnte nur im Liegen, vermutlich im Schlaf erfolgt sein und führte nicht zum sofortigen Tod, sondern zu einer wochenlangen Leidensperiode mit wachen und komatösen Abschnitten. Dies ergibt sich einerseits aus der Art und Schwere der Verletzung sowie andererseits aus der Tatsache, daß künstliche Ernährung unbekannt war, der Patient also zumindest zeitweise zur Nahrungsaufnahme fähig gewesen sein mußte.

Spätestens hier stellen sich die Fragen, die jeder Mordfall aufwirft: Wer war der Mörder, was war das Motiv, wie waren die Umstände, die zur Tat führten. Allein die Frage der Mordwaffe erscheint in diesem Zusammenhang nebensächlich.

Hier setzt das geniale Kompositionsvermögen des Autors ein, der uns in die ägyptische Lebenswelt vor 4000 Jahren ein- und entführt. Durch seine begünstigte Lage hatte Ägypten einerseits keine Bedrohung von äußeren Feinden zu gewärtigen, andererseits brachte das alljährliche Nilhochwasser Reichtum und Segen selbst für die einfache Bevölkerung. Ein kluges Verwaltungssystem schaffte dort den Ausgleich, wo es zu Ungerechtigkeiten hätte kommen können. So sicherten Pharao und Priesterschaft die innere Stabilität, während das Militär, die dritte Säule des ägyptischen Staates, für die Mehrung des Reichtums durch Eroberungen sorgte. Dabei waren die Ägypter selbst nie expansiv, sie wollten in dem Wissen um ihr heimatliches Paradies nur regelmäßigen Tribut, keine Ausdehnung ihres eigenen Siedlungsraumes. All diese Umstände garantierten die Jahrhunderte, ja sogar Jahrtausende währende Stabilität. Bis zu jenem Zeitpunkt, als Amenophis IV. an die Macht kam, der sich nach wenigen Jahren Echnaton nennen und dem Land die gigantischste Umwälzung in sämtlichen Lebensbereichen bringen sollte, die man sich vorstellen kann. Aus Gegenwart und Geschichte wissen wir heute, wie sensibel die Menschen schon auf geringfügige Veränderungen ihrer gewohnten Lebensumstände reagieren, wie schon feine Verschiebungen des Machtgefüges Unruhen hervorrufen können. Ein Aufbegehren gegen den Gott gleichen Pharao war von vornherein ausgeschlossen, also blieb nichts weiter, als sich zähneknirschend den Gegebenheiten anzupassen und später jede Erinnerung daran zu tilgen. Der von Echnaton verordnete Glauben an einen einzigen Gott - Aton - entsprach in keiner Weise den Gegebenheiten der Zeit. Außerdem führte er dazu, daß die Amun-Priesterschaft quasi arbeitslos wurde, auch wenn sie sich durch ihre reichen Besitzungen selbst am Leben erhalten konnte. Der Umzug des Hofes nach Amarna führte zum Absinken Thebens, einer ehemals blühenden Stadt, in die Bedeutungslosigkeit.

Echnaton hatte Aton geschworen, Amarna niemals zu verlassen, gleiches galt für seine Familie. Auch Feldzüge interessierten ihn nicht. Dringende Briefe seiner obersten Heerführer über den Abfall wichtiger tributpflichtiger Länder blieben unbeantwortet. Diese Zustände führten nicht nur zu Unmut im Militär, sondern verursachten auch einen wirtschaftlichen Niedergang, da die aufwendige Hofhaltung Unsummen verschlang und der Pharao die Treue seiner Untertanen mitunter regelrecht erkaufte. Bei all diesen negativen Entwicklungen stellt sich die Frage, wieso es zu einer solchen völlig unsinnig erscheinenden Änderung der Herrschaftsgwohnheiten kommen konnte.

Dies zu erklären, entwickelt der Autor eine schlüssige Theorie, die sich sowohl auf seine Erfahrungen als Pathologe stützt als auch auf Erkenntnisse der modernen Psychologie: Echnaton, „der in der Wahrheit lebte”, wird auf Abbildern stets mit seltsam anmutenden Körperproportionen dargestellt - langer Schädel, breite Hüften, schmale Schultern und Ansatz von Brüsten, dazu lange Füße und Finger. Alle diese Symptome entsprechen einem Krankheitsbild, das heute als „Marfan-Syndrom” bekannt ist. Offensichtlich hatten diese deutlich sichtbaren körperlichen Veränderungen zu einem derart großen Leidensdruck für den jungen Thronerben geführt, daß er sich nach seinem Machtantritt von allem Überlieferten lossagen mußte. Diese Verhaltensweise fand Bob Brier in Gesprächen mit einer New Yorker Selbsthilfegruppe von Marfan-Kranken bestätigt, die inzwischen Echnaton zu ihrem Symbol erwählt haben. Auch heute kompensieren junge Menschen ihre krankheitsbedingte Andersartigkeit durch persönliche Überhöhung, durch auffällige Kleidung und eigenwilliges Auftreten. In Echnaton erkannten sich diese an Marfan erkrankten Menschen des ausgehenden 20. Jahrhunderts mühelos wieder.

Der Autor bezieht den Leser in seinen zwei Jahre währenden Rechercheprozeß mit ein,indem er nicht nur die Ergebnisse aufzeigt, sondern den Leser teilhaben läßt an den Stationen seiner Suche. Da er sich natürlich auf viele bekannte Museumsstücke bezieht, die der Leser vielleicht sogar schon mit eigenen Augen bestaunen konnte, wird man um so stärker in die Geschichte hineingezogen. Die eben erwähnten Erkenntnisse brachten einen entscheidenden Fortschritt bei der Aufklärung des Mordfalles Tutanchamun. Läßt sich ab diesem Augenblick doch nahezu mühelos rekonstruieren, wer welches Interesse am Tode Tutanchamuns haben konnte. Nach dem Ableben Echnatons war es Eje, der Wesir, der anstelle des zehnjährigen Pharaos Tutanchamun regierte, den Hof wieder nach Theben verlegte und alle Spuren der Herrschaft Echnatons und des Aton-Glaubens auslöschte. Bob Brier macht die psychologischen Probleme deutlich, die für das Königskind und die ihm angetraute Halbschwester Anchesenamun aufgetreten sein könnten. Als angenehm ist dabei anzumerken, daß er Spekulationen stets offen als solche kenntlich macht. Ihnen ist dennoch eine bezwingende Logik eigen, die es dem Leser ermöglicht, dem Autor unbedingt zu folgen. Nach und nach fing Tutanchamun an, sich in die Politik einzumischen und eigene Entscheidungen zu treffen. Seine Schwester-Gemahlin war dabei seine einzige Vertraute. Zwischen dem Königspaar muß offensichtlich große Zuneigung und Liebe bestanden haben, die Anchesenamun den Verlust besonders schmerzlich empfinden ließ. Indirekt überliefert ist ein Brief, den sie voller Angst an den König der Hethiter, einen der größten Feinde Ägyptens, sandte mit der Bitte, ihr einen seiner Söhne als neuen Herrscher Ägyptens anzutrauen, um nicht einen ihrer Diener heiraten zu müssen. Allein diese völlig ungewöhnliche Bitte läßt schon auf eine Intrige schließen, die Tatsache, daß der hethitische Prinz an der ägyptischen Grenze ermordet wurde, Anchesenamun dann durch ihre Heirat mit Eje diesem zur Pharaonenwürde verhalf und schließlich unauffindbar aus der Geschichte verschwand, bestätigt diese Vermutung schon fast zwangsläufig. Nach dem Tode Ejes folgte Haremhab, der einstige Heerführer Echnatons, auf den Thron des Pharaos und verhalf Ägypten durch seine kluge Politik zu einer neuen Blüte.

Die beiden möglichen Anstifter der Tat werden wie mit Leuchtschrift an die Pyramiden geschrieben. Bob Brier entscheidet sich für einen von ihnen und weiß auch dieses zu begründen. Zum Schluß sollen noch die umfangreichen Literaturhinweise gewürdigt werden,die Brier - Aton sei Dank - jeweils mit einem kurzen Hinweis auf den wichtigsten Inhalt ergänzt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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