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Rudolf Eucken: Mensch und Welt
Eine Philosophie des Lebens.
Leipzig 1918
Die deutschsprachigen Literaturnobelpreisträger (2)

 

Rudolf Eucken war der zweite Deutsche, der den Nobelpreis für Literatur erhielt. Und wie Theodor Mommsen war auch er kein eigentlicher Literat, weder Schriftsteller noch Lyriker oder Dramatiker. Ein Jahr vor ihm - 1907 - hatte der englische Schriftsteller Rudyard Kipling (1865-1936), der durch seine Geschichten aus Indien, vor allem durch Das Dschungelbuch, bekannt geworden war, den Preis erhalten. Unmittelbar nach Eucken wurde mit Selma Lagerlöf (1858-1940) die erste Frau ausgezeichnet. Die schwedische Erzählerin schrieb Romane wie Gösta Berling und Jerusalem sowie die weltbekannten Geschichten über die Reisen des Nils Holgersson mit den Wildgänsen.

Rudolf Eucken dagegen war der typische deutsche Gelehrte. Am 5. Januar 1846 in Aurich (Ostfriesland) in der Familie eines Postbeamten geboren, schlug er nach dem Schulbesuch, dem Studium in Göttingen und der Promotion über die Sprache bei Aristoteles anfänglich die Lehrerlaufbahn ein. Nach kurzem Aufenthalt in Berlin arbeitete er als Lehrer in Husum, der Stadt Theodor Storms, und ab 1869 in Frankfurt am Main, wohin ihn ein Bruder Theodor Mommsens geholt hatte, der dort das Gymnasium leitete. 1871 erhielt er einen Ruf als Professor für Philosophie und Pädagogik an die Universität in Basel. Hier lehrten zu dieser Zeit unter anderen Jacob Burckhardt (1818-1897) und Friedrich Nietzsche (1844-1900). Schließlich kam Eucken 1874 an die Universität von Jena, wo er bis 1920 tätig war, ehe er in den Ruhestand trat. In seinen Lebenserinnerungen - erschienen 1921 - schrieb er: „Ich erlebte die großen inneren Wandlungen der deutschen Verhältnisse; meine Jugendzeit hatte weit einfachere und ruhigere Zustände, als sie uns später umfingen, das Leben verlief in engeren Bahnen, noch fehlte der riesenhafte Aufschwung von Industrie und Technik, es fehlten die Großstädte mit ihrer Anhäufung der Massen, es fehlte die Beherrschung des Lebens durch die Fabrik, es verschlang noch nicht eine fieberhafte Arbeitskultur das ganze Leben. Namentlich seit den siebziger Jahren hat sich diese Veränderung mehr und mehr gesteigert.” Den Kampf gegen die Veräußerlichung des Lebens nannte er seinen Lebensinhalt.

Daß Eucken den Nobelpreis für Literatur erhielt, kam für ihn nicht ganz überraschend. Er war bereits vorher zum auswärtigen Mitglied der schwedischen Akademie der Wissenschaften berufen worden, seine Arbeiten waren in Nordeuropa bekannt, schwedische Gelehrte setzten sich für ihn ein. Und auch der frühere schwedische König Oscar II. (1829-1907) hatte sich mit Euckens Schriften, insbesondere seiner Religionsphilosophie, befaßt. Bei der Verleihung des Nobelpreises am 14. November 1908 hielt Eucken einen Vortrag zum Thema „Naturalismus und Idealismus”. Ein wenig erstaunt mußte er feststellen, daß seine Auszeichnung in der französischen Presse mehr Zustimmung fand als in der deutschen. In der Begründung der Preisverleihung hieß es, daß er den Literaturnobelpreis erhalte „auf Grund des ernsten Suchens nach Wahrheit, der durchdringenden Gedankenkraft und des Weitblicks, der Wärme und Kraft der Darstellung, womit er in zahlreichen Arbeiten eine ideale Weltanschauung vertreten und entwickelt hat”.

Bis zu seiner Ehrung durch den Nobelpreis hatte Eucken schon eine Reihe gewichtiger Arbeiten verfaßt, so Geschichte und Kritik der Grundbegriffe der Gegenwart (1878), Die Einheit des Geisteslebens in Bewußtsein und Tat der Menschheit (1888), Die Lebensanschauungen der großen Denker (1890), Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt (1896) und nicht zuletzt Der Wahrheitsgehalt der Religion (1901) sowie Hauptprobleme der Religionsphilosophie der Gegenwart (1907). Im Jahr seiner Auszeichnung legte er die Schrift Der Sinn und Wert des Lebens vor. Während des Ersten Weltkrieges arbeitete er an seinem Hauptwerk Mensch und Welt. Eine Philosophie des Lebens, das noch 1918 erschien.

Rudolf Eucken ging in seinem philosophischen Konzept davon aus, daß das Geistesleben nicht nur ein eigenständiges, sondern das eigentliche Leben sei, das eine neue Stufe der Wirklichkeit schaffe. Man wertet ihn daher als den Begründer eines Neu-Idealismus, obwohl sich Eucken gegen diesen Begriff gewehrt hätte. Ihm ging es um eine neuartige Verbindung von Natur, Geist und All in einem Prozeß, den er das „Beisichselbstsein des Lebens” nannte. In seiner Schrift Der Sinn und Wert des Lebens charakterisierte er die drei Schichten des Lebens folgendermaßen: „Über der Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit der natürlichen und gesellschaftlichen Selbsterhaltung erhebt sich weltbauendes Schaffen und entwickelt Kraft wie Schönheit, über ihm aber liegt ein Reich weltüberlegener Innerlichkeit und weltüberwindender Liebe; der Weltanschauung nach neigt die erste Stufe, wenn nicht zum Materialismus, so doch zum Positivismus und Agnostizismus, die zweite zu einer pantheistischen Denkart und einer unpersönlichen Fassung des Geisteslebens, die dritte vertritt einen Theismus und gibt dem Geistesleben eine mehr persönliche Färbung. Nun kann das Ganze des Lebens nur gelingen, wenn diese verschiedenen Stufen in lebendiger Beziehung und Wechselwirkung bleiben und einander ergänzen, wenn die niederen zu den höheren weiterstreben und diese sich auf sie zurückbeziehen ...”

Eucken bereiste in den folgenden Jahren England, Holland und die USA und erhielt verschiedene Ehrungen. Immer wieder betonte er, daß sein Hauptanliegen Probleme des geistigen Lebens der ganzen Menschheit darstellten. Doch bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges stellte er sich - wie die meisten deutschen Geistesschaffenden - vorbehaltlos auf die Seite des deutschen Kaiserreiches und schrieb noch 1921 in seinen Erinnerungen, daß er durch den Ausbruch des Krieges zwar schmerzlich betroffen gewesen sei, aber daß er fest davon überzeugt sei, „

daß das deutsche Volk ein gutes Recht hatte, in den Kampf zu gehen und sich gegen alle Angriffe zu verteidigen”. Nach dem Krieg warnte er vor kommenden Gefahren, so vor dem Niedergang der Gesellschaft und dem Machtantritt eines Diktators. „Es war und ist mir völlig klar”, heißt es in seinen Lebenserinnerungen, „daß nur die Erringung eines geistigen Lebensinhaltes die Menschheit vor einem inneren Zerfall behüten kann: sie muß entweder steigen oder sinken, ein Beharren beim gegenwärtigen Stande ist unmöglich.”

Anhänger seiner Ideen begründeten 1920 in Jena einen Eucken-Bund. Am 16. September 1926 starb Rudolf Eucken in Jena.

* * *

Das Buch Mensch und Welt nannte Eucken sein systematisches Hauptwerk. Er schrieb diese „Philosophie des Lebens”, wie der Untertitel lautete, vor allem während des Ersten Weltkrieges. Von der Dramatik dieser Jahre ist allerdings wenig zu spüren. Lediglich zweimal geht der Autor im ganzen Buch mit einem Nebensatz auf die gegenwärtige Situation des Krieges ein. Das ist auch nicht verwunderlich, befaßt sich Eucken hier doch mit derart übergreifenden Grundfragen der Menschheit und ihrer bisherigen Entwicklung, daß der Weltkrieg dabei tatsächlich nur als ein Detail erscheinen muß.

Allerdings beginnt das Buch mit einem Paukenschlag. Die ersten Sätze lauten: „Die folgenden Untersuchungen gehen von der Überzeugung aus, daß wir uns heute in einer geistigen Krise befinden, wie sie in solcher Tiefe und Weite die Menschheit noch niemals erlebt hat ...

Die Menschheit - nicht alle einzelnen, wohl aber der Hauptzug des gemeinsamen Lebens - hat zuerst den Glauben an Gott verloren, dann den an eine der Welt innewohnende Vernunft, sie beginnt nun auch den an sich selbst und damit den letzten Halt zu verlieren; im Gesamtergebnis wäre damit das Leben einer völligen Leere und Sinnlosigkeit ausgeliefert.”

Eucken diagnostiziert also eine tiefgreifende Krise. Allerdings sieht er sie weniger im Zusammenhang mit dem Weltkrieg als vielmehr als eine übergreifende geistige Situation der modernen Menschheit. Bereits 1896 hatte er in Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt auf die wachsende Leere des Lebens hingewiesen. Und 1908 ging es ihm in Der Sinn und der Wert des Lebens um das gleiche Problem: um die Suche nach einer Sinngebung in einem deutlich entleerten Leben. In seinem Hauptwerk überprüft er nun die Geschichte der Menschheit nach bestimmten Lebensstufen, wobei er sich besonders mit der Antike, mit dem Christentum und der Neuzeit - hier vor allem mit der Aufklärung - befaßt. Er begreift diese Lebensstufen als widersprüchliche Entwicklungen vom mehr Materiellen zum mehr Ideellen, weist aber auch auf Rückschläge und gegensätzliche Trends hin. Geschichte ist so für ihn kein wirres Chaos, auch kein Tummelplatz „bloßmenschlicher Kräfte”; vielmehr ist sie „ihrem Lebensgehalt nach ... weniger Menschengeschichte als Geistesgeschichte, eine Geschichte der Eröffnung selbständigen Lebens auf dem Boden der Menschheit”.

Bereits der Titel des Buches weist auf die zentrale Achse aller Überlegungen hin: Es geht um die Suche nach einer inneren Verbindung des Menschen mit der Welt. Dabei begreift Eucken den Menschen zwar durchaus als Teil der Natur, lehnt jedoch eine Reduzierung auf das Naturwesen Mensch ab und setzt sich kritisch mit jeder Form von Naturalismus auseinander. Ebenso distanziert steht er aber auch einer Idealkultur gegenüber, in der der Mensch nur in seiner Subjektrolle gesehen wird. Eucken unterscheidet vielmehr zwischen niederen und höheren Formen des Lebens; er wendet sich gegen ein Verbleiben des Menschen in der Außenwelt, in einem bloßen Dasein und fordert ein Vordringen in die Innenwelt. Das aber setzt Tätigsein voraus. „Nicht grübelnde Reflexion, sondern nur Tat und Erfahrung kann das Leben weitertreiben, kann neue Kräfte erwecken, kann Weiterbildungen auch seines Gesamtstandes bewirken. Aus Feuer und Sturm des Lebenskampfes, nicht aus Entwerfung bloßer Bilder, geht echter Fortschritt hervor”, heißt es bei ihm.

Die zentrale Idee der Philosophie Euckens und damit auch seines Buches besteht darin, dem Leben eine ganz neue Dimension zu geben. „Das Leben ist das Urphänomen, in dem und von dem aus uns alles zugeht, was wir an Wirklichkeit kennen. Aber es selbst ist nicht einfacher und eindeutiger Art; wer es als solches versteht und behandelt, hält sich leicht nur an eine niedere Stufe und drückt damit das Ganze herab. In Wahrheit zeigt die Welt, der wir angehören, eine Weiterbewegung und einen Aufstieg des Lebens durch verschiedene Stufen hindurch, immer mehr befreit es sich von anfänglicher Gebundenheit, immer mehr faßt es sich zur Einheit zusammen, immer mehr gewinnt es an Selbständigkeit, bis es endlich an einen Punkt gelangt, wo ein volles Beisichselbstsein hervorbricht und als absolutes Leben zum Träger aller Wirklichkeit wird.” Um dieses „Beisichselbstsein des Lebens” drehen sich alle Überlegungen des Autors. Das Leben entwickelt sich in unterschiedlichen Stufen dahin, ist aber noch längst nicht angekommen. Dieses Lebensganze, dieses schaffende Leben - Eucken nennt es auch Urleben - stellt den Kern der Wirklichkeit dar. Es existiert im Menschen, geht aber über den Menschen hinaus. Dieses Leben gilt es durch geistige Arbeit zu erkennen, in seinem Wesen zu bestimmen und daraus die Forderungen an die Menschheit, an die Moral der Gegenwart abzuleiten.

Geradezu beschwörend fragt Eucken seine Leser: „Nichts Geringeres steht in Frage als wo der Kern der Wirklichkeit liegt, und was die entscheidenden Ziele und Maße zu liefern hat; soll die Menschheit jene Innenwelt aufrechterhalten trotz des harten Widerspruchs der Außenwelt, oder soll sie sich für diese entscheiden und damit ihr eigenes Leben, das Persönlichsein mit all seinen Werten, seinen ethischen Zielen, seiner Freiheit und seiner Liebe für eine Einbildung erklären?”

Natürlich ist klar, welche Antwort Eucken gibt: das Schaffen dieser Geisteswelt, das Vordringen in diese Welt als jenen stolzen Prozeß, den er als das Beisichselbstsein des Lebens benennt.

Es fällt heute schwer, der Argumentation von Rudolf Eucken zu folgen; die weltgeschichtliche Entwicklung im 20. Jahrhundert hat die Krisenphänomene der menschlichen Gesellschaft eher verschärft denn überwunden. Auch sein Lebensbegriff bleibt seltsam vage und bietet wenige Ansatzpunkte für eine produktive Verwendung. Lesenswert dagegen bleiben seine teilweise recht eigenwilligen Einschätzungen der Antike, des Christentums und der Aufklärung, seine Aussagen zu Plato und Aristoteles, zu Leibniz und Luther, zu Kant und Hegel. Und geradezu modern sind jene kritischen Passagen, in denen er sich mit der Leere des menschlichen Lebens auseinandersetzt. „Es gibt kaum ein Ziel, das dem Menschen so viel Scharfsinn, so viel Witz, so viel Erfindung abgelockt hat als diese Bekämpfung der Leere”, schreibt er sarkastisch, „das ganze gesellige Leben mit seinen ausgeklügelten Einrichtungen und seinen unablässigen Abwechslungen dient vornehmlich diesem Streben, dieser Flucht des Menschen vor seiner Leere. Mit besonderer Stärke erscheint diese Flucht in Zeiten überreifer Kultur, wo kein geistiger Gehalt die Kräfte genügend bindet, erscheint sie daher auch in unserer eignen so beschaffenen Zeit.”

Mensch und Welt ist sicher kein Buch, zu dem man heute noch ohne geistesgeschichtliches Interesse greifen würde. Aber es zeigt einen Denker, der nicht nur die Krise seiner Zeit zu erfassen versucht hat, sondern der auch den Mut hatte, nach Auswegen zu suchen, die schon zu seiner Zeit wenig populär waren.  

Eberhard Fromm



Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
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