Literaturstätten



 
Erotik in den 90er Jahren
Thomas Lehr und Judith Kuckart lasen im Podewil

 

Im Berliner Podewil startete DeutschlandRadio als Gast im literarischen Salon Britta Gansebohm eine Serie von sechs Doppellesungen junger Autoren, deren Werke thematisch korrespondieren. Den Auftakt unter dem Vorzeichen „Erotik” bildeten die in Berlin lebenden Schriftsteller Thomas Lehr (geb. 1957) und Judith Kuckart (geb. 1959). Beiden gelang mit den Romanen Nabokows Katze (Thomas Lehr) bzw. Der Bibliothekar (Judith Kuckart, vgl. Lesezeichen 7/8/1998), aus denen sie lasen, der große Erfolg.

Judith Kuckart, Theater-Regisseurin sowie Gründerin einer freien Tanztheatergruppe, erzählte, sie habe nach ihren eher politischen Romanen Wahl der Waffen (1990) und Die schöne Frau (1994) zur Erholung auf die schnelle einen Liebesroman schreiben wollen, dafür aber vier Jahre gebraucht. Sie wisse nun, daß die Darstellung der Liebe zum Schwierigsten in der Literatur gehöre. Erzählt wird eine Liebesgeschichte in dem Westberlin von 1982. Ein Bibliothekar - ein Michel Piccoli in jüngeren Jahren - verliebt sich in eine Striptease-Tänzerin. „Er hatte eine Erleuchtung”, erklärt die Autorin. Der Grund für diese Liebe bleibt ein Geheimnis. Anders als in Heinrich Manns Professor Unrat geht in dieser Beziehung die Frau zugrunde. „In dem Augenblick, wo sie ihren Erinnerungen ausgeliefert ist, verliert sie ihre Stärke”, kommentiert Judith Kuckart. Erzählt wird diese Geschichte von der in Ostberlin aufgewachsenen unehelichen Tochter des Helden, also aus der Perspektive der 90er Jahre.

Nabokows Katze von Thomas Lehr, einem studierten Biochemiker, der vor diesem Erfolg ebenfalls bereits zwei Romane veröffentlicht hatte (Zweiwasser oder die Bibliothek der Gnade 1993 und Die Erhörung 1994), umspannt die Jahre zwischen 1973 und 1997. Georg erlebt diese „Reise durch die Zeit” von seinem 16. bis zu seinem 40. Lebensjahr. Das Anliegen des Autors war es, „gegen die Zeit anzuschreiben”, „Liebe in ihren verschiedenen Stadien” darzustellen. Georg, der erfolgreiche Filmregisseur, projiziere in die Liebe alles mögliche, er suche darin eine metaphysische Antwort. „Ob die Liebe einen Sinn macht, das ist die Frage, die man sich eigentlich nicht stellen sollte; Georg geht daran zugrunde”, erklärt Thomas Lehr. „Eine der quälenden Fragen Georgs ist es, ob er Camille - der er 25 Jahre nachjagt - erfindet, ob diese Obsession ihn von vielen anderen quälenden Fragen befreit, ob sie ein Ersatz für Sinn ist.” Georg, der selbst ein „Bildermacher” ist, macht sich ein Bild von Camille. Während Judith Kuckart Sexualität indirekt, wie unter einem Schleier darstellt, ist sie bei Thomas Lehr sehr direkt. Es habe ihn gereizt, in der Sprachtradition des 18. Jahrhunderts Erotik mit Analytik zu paaren und dabei vielleicht eine neue Komponente von Humor zu finden, erklärt er.

Im zweiten Teil des Abends las Judith Kuckart aus ihren „Sätzen mit Datum”, Tagebucheintragungen während ihres Aufenthalts in der Villa Massimo, die entstanden, als ihre Mutter starb. Dieser noch unveröffentlichte Text lag einem Hörspiel zugrunde, für das die Autorin in Rom authentische Geräusche, eine Art akustisches Tagebuch, aufzeichnete. Sie habe vierzig Jahre alt werden müssen, um in diesen Texten zum erstenmal „ich” zu sagen, gesteht die Autorin. Auch Thomas Lehr bestätigt, daß die unsägliche Selbstfindungsliteratur der 70er Jahre ihn lange von autobiographischen Anwandlungen abgehalten habe, erst in Nabokow Katze habe er selbst Erlebtes einfließen lassen. Der Roman bilde jedoch ein undurchdringliches Geflecht dessen, „was wahr und was erstunken” sei.  

Dorothea Körner



Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
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