Annotation von Gudrun Schmidt


Walberg, Ernst Jürgen/Balzer, Thomas:
Erinnerungen für die Zukunft
Geschichte und Geschichten aus dem Norden der DDR.
Herausgegeben vom Norddeutschen Rundfunk.

J. H. W. Dietz Nachf., Bonn 1999, 240 S.
mit etwa 100 Abbildungen und Dokumenten

Dieses Buch entstand nach einer Hörfunkreihe des Norddeutschen Rundfunks. Seit 1993 spüren die Autoren Lebensgeschichten der Menschen in der Region um Schwerin, Rostock und Neubrandenburg nach. Von den letzten Kriegstagen im Frühjahr 1945 bis zu den Friedensgebeten und Montagsdemonstrationen im Herbst 1989 spannt sich der Bogen. Walberg, mit „West“-Biographie, und Balzer, aufgewachsen in der DDR, haben Zeitzeugen befragt, um ihre Erinnerungen für die Zukunft festzuhalten. Kaum ein Thema wird dabei ausgespart. Auch mit der zeitlichen Distanz eines halben Jahrhunderts spürt man, wie schmerzlich das Zurückdenken in die eigene Vergangenheit für den einzelnen sein kann. Nostalgische Verklärung kommt da nicht auf, denn eher sind es leidvolle Erfahrungen, über die hier berichtet wird.

„Menschen vergessen, verdrängen, verleugnen alles, was zu sagen und angemessen zu fühlen unmöglich ist, und dennoch bleibt das Erlebte für immer erhalten und bildet den Bodensatz der Seele. Es bedarf der Zeit und eines geschützten Raumes, um sich gefahrlos zu erinnern und Schlimmes wieder zu wissen und zu fühlen“, schreibt der Hallenser Psychologe Hans-Joachim Maaz im Vorwort zu diesem Buch. Lange Zeit haben die Frauen geschwiegen - aus Scham, erlittener Demütigung und weil Vergewaltigungen durch Soldaten der Roten Armee tabu waren. Einige Frauen reden jetzt zum erstenmal darüber. Ob sie Haß verspüren? „... ich habe die Russen nicht gehaßt - ich habe die Nationalsozialisten gehaßt, die uns das alles eingebrockt hatten“, sagt eine der Betroffenen. Da ist die Geschichte der Frieda Helinski. Als 18jährige wurde sie im Mai 1945 zur Zwangsarbeit nach Sibirien deportiert. An den gesundheitlichen Folgen der fünfjährigen Deportation leidet sie bis heute. Damals, resümiert sie, haben wir die Kriegsschulden für beide Teile Deutschlands abgearbeitet. Doch die alte Ungerechtigkeit ist geblieben. Auch nach der Wiedervereinigung fühlt sie sich als Deutsche 2. Klasse, denn eine wirkliche Wiedergutmachung steht noch aus.

In dem Band überwiegen Berichte von Zeitzeugen aus den Nachkriegsjahren und der Frühzeit der DDR. Das ist berechtigt, denn Gesprächspartner, die Erfahrungen jener Zeit vermitteln können, gibt es nicht mehr viele. In Schilderungen der nachfolgenden Generation wird deutlich, wie Anspruch und Hoffnungen der Menschen an eine neue Gesellschaft immer stärker mit der Realität der DDR in Widerspruch gerieten. In einer Blitzaktion wur de das Lehrerehepaar Büchner wie andere auch nach dem Bau der Mauer im Herbst 1961 aus dem Sperrkreis an der Staatsgrenze West umgesiedelt. Die Büchners galten als unzuverlässig und erhielten Berufsverbot. Bis zum Fall der Mauer haben sie in der Öffentlichkeit geschwiegen.

Ergänzt werden die sehr persönlichen Erfahrungsberichte durch historische Dokumente, Aktennotizen, Fotos, Zeitungsausschnitte. Aus eigenem Erleben wissen die Autoren, wie wichtig die Kenntnis der jeweiligen Lebensumwelten für das Verständnis des anderen ist. Sich gegenseitig Lebensläufe zu erzählen, mehr vom anderen zu wissen, um aufrichtiger miteinander umzugehen - dieser Prozeß ist auch zehn Jahre nach dem Bau der Mauer noch nicht abgeschlossen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

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