Annotation von Eberhard Wegner
Als Historiker sehe ich die gegenwärtige
Situation als Herausforderung an mitzuhelfen, ein
Bild über die DDR zu erarbeiten, das der Wahrheit
näherkommt als ein Großteil der in jüngster Zeit
publizierten Abhandlungen, erläutert der Autor,
bis 1991 Lehrstuhlinhaber für Deutsche
Geschichte an der Rostocker Universität, sein Anliegen. Er
beruft sich dabei auf eine Äußerung von
Bundespräsident Herzog am 3. Oktober 1998, daß wir
uns wechselseitig unsere Biographien erzählen
sollen, damit sich daraus eine ehrliche
Gesamtschau entwickelt, die wir uns gemeinsam zu
eigen machen können. Der Autor erhebt nicht den
Anspruch, Porträts im literarischen oder
journalistischen Sinne verfaßt zu haben. Seine
biographischen Notizen, nach Gesprächen
geschrieben, wirken für meinen Geschmack manchmal
ein wenig trocken und lehrbuchhaft. Sie sind aber
interessant durch ihre Fakten und Daten, die Lebensläufe mit ihren Knackpunkten und
Wendungen. Vorgestellt werden zehn Personen, die durchweg aus Überzeugung und nicht aus
Zwang in der DDR gelebt haben. Die sich zwar
gelegentlich an diesem Staat, seinen Maßnahmen
gerieben, seine Mängel und Ungereimtheiten
gespürt haben, sich aber in diesem Land zu Hause
fühlten, sich zu ihm bekennen und ihre Biographien
nicht bereuen. Der Reigen beginnt mit der 1917
geborenen Ina Ender, die in ihren jungen Jahren als
Mannequin eines Berliner Modesalons aktiv in der
Widerstandsgruppe Rote Kapelle wirkte,
gleich nach dem Krieg Bürgermeisterin in
Brand-Erbisdorf, später Betriebsleiterin war, wegen
verschiedener Verstöße abgesetzt wurde und als
Näherin arbeitete. Einer ganz anderen Generation
gehört Solveig Leo an, die 1968 als 24jährige
Vorsitzende einer LPG von 1 000 Hektar wurde, als eine
Art Vorzeigefrau in der DDR galt, 1985 an die
Spitze der mehrere Landkreise umfassenden Agrar-Industrievereinigung Lewitz trat, nach der
Wende arbeitslos war, von einer Münchener Stiftung
eine ABM-Stelle bekam, sich schließlich neues
Vertrauen als Leiterin Feldbau in einer Agrar-Produkt-GmbH von 2 500 Hektar errang und 1994
außerdem Bürgermeisterin ihres
Heimatdorfes Banzkow wurde. Zu den interessantesten
Notizen gehört zweifellos die über den Direktor des
Leipziger Zentralinstituts für Jugendforschung, Prof.
Dr. Walter Friedrich. Vor allem, weil wir durch ihn
erfahren, wie sträflich von der DDR-Führung
unter Honecker die tatsächliche Stimmung der
Bevölkerung, besonders der Mentalitätswandel
unter der Jugend, ignoriert wurde. Einer der
wenigen Nicht-Ignoranten unter den DDR-Spitzenfunktionären war zweifellos der ebenfalls im Buch
vorgestellte Dr. Wolfgang Herger, an der Jenaer
Universität promovierter Philosoph, der nach anfänglichen Reibereien mit SED und
FDJ schließlich eine steile Karriere machte, 2.
Sekretär des FDJ-Zentralrates, Abteilungsleiter des
SED-Zentralkomitees (erst für Jugendfragen, dann,
als erster Nichtmilitär, für Sicherheit) wurde, an
der Seite von Egon Krenz und anderen maßgeblich
an der Absetzung Honeckers und am friedlichen Verlauf der Wendetage beteiligt und schließlich
vom 6. November bis 3. Dezember 1989
Politbüromitglied war. Außer von den Genannten finden
sich im Buch die biographischen Notizen der
ehemaligen Lehrerin Brigitte Reith, ihres
Berufskollegen Dr. Jürgen Pfeiler, des Rostocker Bildhauers
Wolfgang Eckardt, des letzten Chefs der
DDR-Volksmarine, Hendrik Born, der ehemaligen Leiterin
des Schulmuseums in Dresden, Dr. Waltraud Hillebrenner, sowie des Rentners Karl Kielhorn, der
zwei Tage nach dem Beitritt der DDR zur BRD von
den bundesdeutschen Organen festgenommen wurde, weil er als Mitglied eines antifaschistischen
Lagerkomitees in sowjetischer Kriegsgefangenschaft mitschuldig am Tod
eines Oberstabsrichters der Naziwehrmacht gewesen sein sollte. Das Buch, in einem renommierten
Verlag erschienen, macht einen recht gediegenen Eindruck, auch durch die umfangreichen
Quellen- und Literaturangaben. Zu bedauern ist nur die schlechte Reproduktion einiger der 66 Fotos.