Annotation von Bernd Heimberger


 

Ewing, William A.:
Zärtliche Berührung
Liebe & Verlangen in der Fotografie.
Edition Leipzig, Leipzig 1999, 400 S.

 

„Seit den frühen Tagen der Fotografie haben gewisse Praktiker Geschmack an der Herstellung von offen sexuellem Material gefunden.” So ein Satz kann einem ein ganzes Buch verleiden. William Ewing hat schon besser geschrieben. Beziehungsweise: Er wurde besser übersetzt. Als käme es bei Ewing aufs Wort an! Einem Ästheten wie dem Lausanner Museumsdirektor ist auch das Wort wichtig. Selbst wenn es vorrangig um anderes geht. Nämlich um „nackte Tatsachen”. Das heißt um den menschlichen Körper in der Fotografie. Der „Faszination Körper” nicht passiv erlegen, hat Ewing vor Jahren mit einem Buch Furore gemacht, das mehr war als eine Sammlung berühmter fotografischer Darstellungen des nackten Menschen. Der menschliche Körper wurde als Motiv der Kunst gefeiert.

Eine Feierstunde will auch Ewings Band Zärtliche Berührung - Liebe & Verlangen in der Fotografie sein. Das Buch ist ein gewollter Affront gegen alles, was in Erotic-Shops angeboten wird. Das Buch ist ein Widerstand gegen sämtliche Porno-Fotos, die Berührung und Zärtlichkeit vortäuschen. Was aber ist im „Zeitalter der Pornographie” das Zärtliche in der Berührung? Was die Liebe? Was das Verlangen? Manches sieht nicht gerade zärtlich aus, was zu sehen ist. Anderes sieht nur träumerisch aus. Vieles sieht eindeutig onanistisch aus - und ist es auch. „Begierden”, wie ein Kapitel überschrieben ist, lassen die meisten Bilder nur ahnen. Sichtbar ist Begehren. Was anderes ist Begehren, wenn nicht eine Spielart des Berührens? Wenn nicht eine Form der Liebe und des Verlangens? Vom menschlichen Begehren, das sich aufs Körperliche konzentriert, ist viel, viel, viel in den Bildern. Das Buch ist voller Fotos unbekannter wie bekannter Lichtbildner. Gemeinsam sind sie an der von Ewing ermöglichten Bild-Chronik des vielseitigen menschlichen Begehren beteiligt. Die wirkliche Berührung, die wirkliche Liebe, die das wirkliche Verlangen ist, ist immer die Szene vor oder nach dem gezeigten Begehren. Die Fotografien sind voller Phantasie und stacheln sie an. In der Phantasie beginnt die Berührung mit den Bildern des Buches, die zärtlich sein kann. Derart gewappnet, triumphiert das Begehren über die Begierde.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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