Rezension von Eberhard Fromm



Machen diese Männer das Jahrhundert?

Hans-Peter Schwarz: Das Gesicht des Jahrhunderts
Monster, Retter und Mediokritäten.
Siedler Verlag, Berlin 1998, 847 S.
 

Der Bonner Historiker Hans-Peter Schwarz (*1934) unternimmt hier den Versuch, in Gestalt von biographischen Essays das Gesicht des 20. Jahrhunderts zu erfassen. Er vergleicht sein Buch mit einem Gang durch ein Geschichtsmuseum, in dem die Bilder verschiedener Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts hängen, so daß man das Gesicht des Jahrhunderts als Abfolge von Gesichtern erlebe. Dabei möchte der Autor durch die Zusammenfassung von Personengruppen und durch Vergleiche zwischen einzelnen Figuren der Geschichte bestimmte Einsichten auch in den zeitgeschichtlichen Hintergrund vermitteln.

Ich kann allerdings nicht verhehlen, daß ich bei diesem Rundgang mehr den Eindruck hatte, in einer Ahnengalerie eines Schlosses zu wandeln, wo die Potentaten des Hauses porträtiert sind. Denn: Schwarz reduziert seine Auswahl streng auf den politischen Raum - und auch hier ausschließlich auf die jeweilige Spitze. Seine Begründung dafür ist, daß „im politischen Raum weltweit geradezu eine Explosion tatkräftiger Individualitäten stattgefunden hat”. Trotzdem bleibt die Frage, ob das 20. Jahrhundert sein Gesicht tatsächlich durch die Wilhelm II. und Hitler, durch Nikolaus II. und Stalin, durch Churchill, Roosevelt und Gorbatschow erhält oder ob es nicht entscheidend mitgeprägt worden ist durch Persönlichkeiten wie Fleming und Einstein, durch Freud und Bohr, durch Strawinsky und Thomas Mann, durch Gagarin und Armstrong.

Wenn man nun als Leser die Beschränkung auf politische Persönlichkeiten akzeptiert hat, dann muß man aber auch die subjektive Auswahl mitschlucken. Zuerst muß man einsehen, daß der Autor inkonsequent ist, wenn er mit Khomeini und Papst Johannes Paul II. zwei religiöse Führer aufnimmt. Dann muß man zugestehen, daß bei den „Größen der Dritten Welt” mit Mahatma Gandhi, Nehru und Indira Gandhi drei Repräsentanten Indiens dargestellt werden, dazu Nasser, Nkrumah und Tito, während eine solche erfolgreiche Gestalt wie Mandela oder Persönlichkeiten wie Ho Chi Minh, Castro, Frau Bandaranaike u. a. fehlen. Überhaupt sind es bei Schwarz die Männer, die die Geschichte machen: Mit Frau Gandhi und Frau Thatcher sind nur zwei Frauen unter den 71 mehr oder weniger ausführlich besprochenen Gestalten.

Wenn man das alles akzeptiert und auch keine genaueren biographischen Daten zu den einzelnen Persönlichkeiten erwartet, dann kann man den „Rundgang” beginnen, der bei den Kaisern und Königen wie Franz Joseph I. oder Hirohito beginnt und in der „Epoche der Reformer” mit Reagan, Kohl(!?), Gorbatschow und Deng Xiaoping endet. Daß letzterer bei der Gruppe der Reformer eingestuft wird, obwohl ihn der Autor als „terroristisches Ungeheuer großen Kalibers” einschätzt, ist eine der kleineren Inkonsequenzen des Buches.

Die einzelnen Essays zu Personen oder Personengruppen sind - und das ist vom Autor gewollt - locker gestaltet. Man liest so die Geschichte des 20. Jahrhunderts aus einem ganz bestimmten Gesichtswinkel. Das ist ein Vorzug des Buches. Natürlich wird man auch herausgefordert zum Widerspruch oder gar zur Ablehnung. Aber das tut einem Buch von solchem Umfang nur gut; man wird nicht von der Fülle erdrückt. So kann man sicher gegen die Charakteristik der russischen revolutionären Elite als „Narrenzirkel halbgebackener Intellektueller” polemisieren, wenn man an einen Plechanow oder Bucharin denkt. Auch die Meinung, daß ohne NikolausII., Wilhelm II. oder Viktor Emanuell III. sich die „sinistren Figuren wie Lenin, Stalin, Mussolini und Hitler nie aus den Gullys der Geschichte” hervorgewagt hätten, muß man nicht unwidersprochen hinnehmen. Schließlich scheint es auch wenig glaubhaft, daß „Großtyrannen” aufgrund „einer schlimmen Laune der Geschichte” gerade in Großmächten aufgetreten sind.

Schwarz liebt es, die von ihm ausgewählten Personen mit starken Worten zu belegen: Giganten, finstere Titanen, Unmenschen, gefährliche Monster u. ä. m. Alles in allem weiß man so am Ende des Rundgangs durch diese politische Ahnengalerie des 20. Jahrhunderts, wer wichtige Köpfe der Zeit gewesen sind. Aber man sollte im Auge behalten, daß damit nur ein Teil des wahren Gesichts des Jahrhunderts sichtbar gemacht worden ist.

Und ganz nebenbei: Ich warte immer noch auf ein Buch, das auf weniger als 200 Seiten eine treffsichere Diagnose des 20. Jahrhunderts gibt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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