Rezension von Walter Unze


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Mehr als eine Familiengeschichte

 

Elisabeth Kraus: Die Familie Mosse
Deutsch-jüdisches Bürgertum im 19. und 20. Jahrhundert.

C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung, München 1999, 793 S.

 

Die Münchner Privatdozentin für Neuere Geschichte, Elisabeth Kraus (* 1956), legt hier ihre Habilitationsschrift vor. Es ist eine erstaunlich fleißige Arbeit mit einem riesigen Berg an Material und einem gewaltigen wissenschaftlichen Apparat. Allein die Anmerkungen und das Literatur- und Quellenverzeichnis umfassen über 170 Seiten. Wenn man als erstes einmal den am Ende des Buches veröffentlichten Stammbaum der Familie Mosse entfaltet, dann wird einem auf einen Blick klar, daß und warum die Autorin so intensive Arbeit leisten mußte: Sie hat sich einer weitverzweigten Familie zugewandt und dabei den Ehrgeiz entwickelt, zu jeder Generation - vom Stammvater Salomon Mosse (1767-1811) bis zu George Mosse (1918-1999) - und innerhalb jeder Generation zu beinahe jedem Angehörigen wesentliche Aussagen zu treffen.

Das Material wird im wesentlichen chronologisch in drei großen Kapiteln vorgeführt. An der Spitze stehen das Leben und Wirken von Markus Mosse (1808-1865) in Posen als Repräsentant der ersten Generation. Dann folgt mit der zweiten Generation der zentrale Teil „Die Familie Mosse in Berlin”, in dem die Zeit zwischen 1865 und 1920 beschrieben wird. Die Zeit zwischen 1920 und 1945 wird sodann unter dem Thema „Blüte und Bedrohung, Verfolgung und Selbstbehauptung” beschrieben und enthält Angaben zu Vertretern der dritten und vierten Generation. Einleitung („Die Bedeutung der Familie”) und Schluß („Die Diaspora einer deutsch-jüdischen Familie”) umrahmen diese drei Hauptkapitel.

Die Autorin verfolgt mit ihrer Untersuchung ein ehrgeiziges Ziel. Mit der Geschichte der Familie Mosse will sie Einblicke in das „erfolgs- und aufstiegsorientierte, stark assimilationswillige deutsch-jüdische Bürgertum Berlins und damit auch Deutschlands” vermitteln. Dabei will sie, über den Rahmen einer Familiengeschichte hinausgehend, zugleich drei Themenkomplexe behandeln, nämlich die Interdependenz von Judentum und Bürgertum, von Judentum und Wirtschaft sowie von Judentum und Wissenschaft. Eine solche breite Aufgabenstellung zwingt natürlich zu häufigen Exkursen, die von der eigentlichen Familiengeschichte und der biographischen Darstellung wegführen. Damit sind einerseits interessante Verallgemeinerungen verbunden, andererseits wird aber auch die Lesbarkeit erschwert.

Den geschlossensten Eindruck hinterläßt das Kapitel über Markus Mosse. Hier werden die persönliche Entwicklung, das familiäre Umfeld, die berufliche Tätigkeit, die politische und religiöse Einstellung konzentriert behandelt, so daß eine klassische Biographie entsteht, aus der man Einsichten in das Leben des jüdischen Arztes Mosse in der Provinz Posen gewinnt, in seine liberale Position, in seine Haltung während der Ereignisse um 1848, in seine Beziehung zu seiner Frau und seinen vierzehn Kindern.

Ebendiese vierzehn Söhne und Töchter stehen im Mittelpunkt des Abschnittes über die Zeit von 1865 bis 1920. Hier verläßt die Autorin das bisher chronologische Herangehen und stellt die einzelnen Mosses mehr nach ihrer Bedeutung vor. Unter dem Titel „Kaiserreich-Karrieren” beginnt sie natürlich mit Rudolf Mosse (1843-1920), dem mächtigen Verleger und Herausgeber des „Berliner Tageblattes”. Einen eigenen Abschnitt erhält auch noch Albert Mosse (1846-1925), der als Jurist Karriere machte und einige Jahre als Berater der kaiserlichen Regierung in Japan tätig war. Die übrigen sechs Brüder werden in einem Abschnitt zusammengefaßt. Ebenso ergeht es den sechs Schwestern, die unter dem Aspekt „Rollenzuweisung und Lebenswirklichkeit” behandelt werden. Interessante Einblicke vermitteln auch jene Teiluntersuchungen, in denen sich die Autorin mit den Stiftungen, dem Mäzenatentum, den Geschäftsbeziehungen und den gesellschaftlichen Beziehungen sowie dem politischen Engagement befaßt. Hier verweist sie auf die Arbeit von Albert Mosse als unbesoldeter Stadtrat und seine Ehrung als Berliner Stadtältester. Die Anmerkung auf seine Ernennung zum Berliner Ehrenbürger im Jahre 1917 beruht wohl auf einem Irrtum, denn in den Unterlagen zu den Berliner Ehrenbürgern gibt es keinen Hinweis auf eine solche Auszeichnung.

Elisabeth Kraus kennzeichnet die Familie Mosse als eine „bürgerliche, die lebensprägenden Orientierungen und wertesetzenden Verhaltensnormen des Bürgertums in hohem Maße verkörpernde Familie”. Der Zerfall des Imperiums von Rudolf Mosse in den Jahren bis 1932, vor allem die massive Verfolgung in der NS-Zeit und die Emigrationswelle der verschiedenen Familienmitglieder sowie ihr weiteres Leben - vor allem in den USA - führen zum Niedergang, ja zum Zerfall der „Kernfamilie”. Die biographische Skizze von Martha Mosse (1884-1977), die als eine der wenigen Familienangehörigen in Deutschland blieb und die Verfolgungen während des NS-Regimes überlebte, bildet einen eindrucksvollen Abschluß des Bandes.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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