Rezension von Klaus Ziermann


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Gesellschaftsanalyse von Format

 

Peter Glotz: Die beschleunigte Gesellschaft
Kulturkämpfe im digitalen Kapitalismus.

Kindler Verlag, München 1999, 288 S.

 

Das Buch beginnt von der ersten Zeile an spannend, denn ohne Umschweife geht Peter Glotz auf sein Ziel zu: „Kein Zweifel, es entsteht eine neue Welt. Aber wie, zum Teufel, entkommt man den korrupten Hochrechnungen, mit denen die Public-Relations-Agenten der börsenorientierten Start-Ups die Welt verrückt machen wollen?” Die „nüchterne Frage”, wie neuartige Kommunikationsverhältnisse die Gesellschaft des frühen 21. Jahrhunderts verändern werden, „fair und unparteiisch” zu beantworten, ist das selbsterklärte Hauptanliegen des bekannten Autors. Bereits auf der zweiten Seite seines „Vorworts” schreibt er geradezu programmatisch: „Eine Grundthese läuft, knapp zusammengefaßt, darauf hinaus, daß die ,digitale Technologie`, ein Komplex unterschiedlicher Techniken und Apparaturen (der im Kapitel 1 dargestellt wird), zu einer neuen Entwicklungsphase marktwirtschaftlicher Ordnung führen wird. Ich nenne diese Formation den ,digitalen Kapitalismus` (Kapitel 3). Diese neue Wirtschaftsordnung erzwingt eine ,beschleunigte Gesellschaft`, die den Lebensrhythmus der Mehrheit radikal verändern wird. Für eine (derzeit nicht genau kalkulierbare) Übergangszeit werden heftige Kulturkämpfe zwischen Be- und Entschleunigern die früheren Industriegesellschaften erschüttern. An die Stelle der vergleichsweise einfach vorauszusehenden ökonomisch motivierten Klassenkämpfe des Industrialismus treten erbitterte, sozusagen ,ganzheitliche` Auseinandersetzungen um die Lebensführung. Die Kontrahenten sind der Zweidrittelblock, angeführt von der neuen Berufsgruppe der Symbolanalytiker, und eine neuartige Unterklasse, das ,dritte Drittel`, das sich aus ausgegrenzten Arbeitslosen und bewußten Verweigerern zusammensetzt.”

Es ist eine vieldimensionale Aufgabe, der sich Peter Glotz unterzieht - ein Anliegen, das sowohl Denken in großen, gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen als auch das zeitgerechte Gespür für ökonomische, politische, soziale oder kulturelle Detailprozesse verlangt. Als Kommunikationswissenschaftler von Beruf und profilierter Publizist, später Bundestagsabgeordneter, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft in Bonn, Berliner Senator für Wissenschaft und Forschung, Bundesgeschäftsführer der SPD und zuletzt Gründungsrektor der neuen Erfurter Universität hat er sich das theoretisch-konzeptionelle Wissen und die praktischen Erfahrungen aneignen können, die die Realisierung eines solchen Anliegens verlangt. Seite für Seite ist dem Buch eine wohltuende Einheit von außergewöhnlich breiter, stichhaltiger und aussagekräftiger Materialbasis aus verschiedenen Wissenschaftsgebieten, einer differenzierten Wertung sozialer Prozesse und praktischer Erfahrungen und Aufforderungen zum eigenständigen Weiterdenken anzumerken. Die gesellschaftlichen Prozesse, die Peter Glotz in 6 Kapiteln analysiert - sie tragen die Überschriften „Medienwende”, „Die Datendichter”, „Digitaler Kapitalismus”, „Silicon Politics”, „Entertainment Economy” und „Lernen im 21. Jahrhundert” -, sind plastisch, in ihren Grob- und Feinkonturen, ihren widersprüchlichen Erscheinungsformen und wichtigsten sozialen Konflikten dargestellt. Besonders hervorzuheben sind dabei die neuartigen „Grundtendenzen des digitalen Kapitalismus”: die Dematerialisierung großer Teile der wirtschaftlichen Tätigkeit, die Beschleunigung des 24-Stunden-Geldmarktes, die Dezentralisierung durch die mikroelektronische Wende und PC-Technik, nicht zuletzt die Globalisierung der gesellschaftlichen Entwicklung.

Durch solche genauen Trendanalysen und deren theoretische Verallgemeinerung unterscheidet sich Die beschleunigte Gesellschaft von normativen Gesellschaftstheorien, die noch immer auf dem deutschen Buchmarkt anzutreffen sind. Ein Anhang mit Anmerkungen zum Text, Fremdwörterverzeichnis und Register bietet dem Leser detaillierte Einblicke in die wissenschaftlichen Quellen und erleichtert ihm das Verständnis vieler aus dem Amerikanischen stammender Sachbegriffe.

„Die Amerikanisierung der Eliten” ist der letzte Abschnitt des Buches überschrieben. „Wer in Spitzenpositionen vorstoßen will, wird ein Jahr auf eine amerikanische Highschool oder Universität geschickt. Wer nicht sowieso in Boston oder Los Angeles bleibt, macht einen Online-Abschluß mit Harvard-, Stanford- oder Carnegie-Mellon-Siegel. So wird die Gedankenwelt unserer künftigen Vorstandsvorsitzenden von Lester Thurow, Paul Krugman, Sam Huntington und Joe Nye geprägt.” Peter Glotz hält nichts davon, dieser Entwicklung mit pauschalen antiamerikanischen Positionen entgegenzuwirken. „Die genannten amerikanischen Wissenschaftler sind hervorragende Köpfe. Wenn die Amerikaner - wie derzeit - die besten Wissenszentren bereithalten, ist es kein Wunder - und sinnvoll, daß die jungen Europäer dort hinstreben. Die wichtigste Technologie unserer Zeit - die digitale - ist sowieso amerikanisch bestimmt.”

Ob die Veränderungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, die Peter Glotz analysiert hat, alle in der von ihm dargestellten und vorhergesagten Form ablaufen werden, sei dahingestellt. Ich könnte mir vorstellen, daß es z. B. über seinen Begriff der „Dematerialisierung großer Teile der wirtschaftlichen Tätigkeit” oder über seine Interpretation der Amerikanisierung fruchtbare, weiterführende Debatten geben könnte. Insgesamt ehrt es ihn jedoch, daß er diesen Versuch gewagt und in diesen beschleunigten Zeitläuften eine Position gefunden hat, die nicht im Abseits endet. Schon im „Vorwort” macht Peter Glotz keinen Hehl daraus, daß seine „Sympathie eher den Beschleunigern als den Entschleunigern gehört. Das liegt nicht nur daran, daß ich selbst schnell gelebt und mich oft verändert habe; das Gejammer unserer Mittelschichten über ,Streß` und ihr Unwille, früh aufzustehen, gehen mir schon seit vielen Jahren auf die Nerven. Wichtiger ist: Ich kämpfe nicht gern gegen Windmühlenflügel. Die Grenzkosten von Reproduktion und Vertrieb digitalisierter Medienprodukte gehen gegen null; viele traditionelle Gewerbe werden verschwinden. Es entsteht ein tiefgehend veränderter Kommunikations- und Wirtschaftsstil. Diese Entwicklung ist unaufhaltsam. Zwar war ich nie das, was man in meiner Jugend mit dummem Stolz einen ,Marxisten` genannt hat. Ein Element der marxistischen Lehre habe ich aber für immer richtig gehalten: Es macht keinen Sinn, gegen ökonomische Gesetzlichkeiten anzugreinen.”


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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