Rezension von Heinrich Buchholzer


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Zeil um zehn - ein Mord ist geschehn

 

Hilal Sezgin: Der Tod des Maßschneiders

Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1999, 365 S.

 

Die Zeil, bekannteste Einkaufs- und Flanierstraße im Zentrum von Frankfurt am Main, ist eine prächtig glitzernde Fußgängerzone zwischen Hauptwache und Konstabler Wache. Das Buch der gebürtigen Frankfurterin, Jahrgang 1970, versetzt uns reichlich hundert Jahre zurück, in den Sommer 1885, als es die Zeil schon längst gab. Die Stadt dehnt sich aus, das Bürgertum baut sich immer mehr und immer protzigere Häuser westlich der Altstadt, nördlich der Mainzer Landstraße. Man beginnt, die Zeil nach Berliner Vorbild mit Konsumtempeln zu bestücken, in denen industriell gefertigte Waren angeboten werden. Der in Jahrhunderten gewachsene Stadtkern aber verändert sich dennoch nur langsam. Er zeigt noch immer das traditionelle Nebeneinander von Wohlhabenheit, Reichtum und Armut, von Handwerk, Kleinhandel und Grossisten, Wirtshäusern und Dienstleistern, Wohnhäusern und Bankgeschäften. Hilal Sezgin weiß dies anschaulich zu schildern, als habe sie damals gelebt.

In diesem Milieu nun geschieht ein Mord, nicht eben alltäglich wie heute. Der Inhaber einer Maßschneiderei wird frühmorgens in einem Park aufgefunden, offenbar am Abend zuvor durch Kopfschuß mit einer Pistole getötet, wahrscheinlich gegen zehn Uhr, vielleicht auch früher oder später. Der Tod des stadtbekannten Maßschneiders gibt Rätsel über Rätsel auf. Keine Zeugen der Tat, keine Waffe. Ein am Mordtag vom Schneidermeister entlassener Geselle wird als Täter verdächtigt und trotz windiger Indizien sogleich verhaftet. Immerhin spricht die Entlassung gegen ihn - und er ist ein Sozi, sozialdemokratischer Umtriebe bezichtigt, so der Forderung nach Zehnstundentag und anderer aufrührerischer Ideen. Aber der Geselle war's nicht, und so muß der zuständige Kriminalkommissar weiter nach dem Mörder suchen. Der Kommissar ist ein eben aus Berlin nach Frankfurt versetzter Beamter, ortsunkundig, unwillkommen, fast auf sich allein gestellt. Mehr und mehr aber wird er unterstützt von einer ebenso neugierigen wie unternehmungslustigen jungen Dame, Tochter eines einheimischen jüdischen Anwalts, die sich unschicklich in solch Männergeschäft einmischt und schließlich den entscheidenden Tip gibt.

Hier liegt kein Kriminalroman der gängigen, auf Spannung ausgerichteten Machart vor. Wir bekommen vielmehr ein Histörchen und Historie vorgesetzt. Es ist ein Kriminalfall, dessen keineswegs geniale, durchaus aufhaltsame Aufklärung eigentlich nur das Gerüst einer fülligen Geschichte bildet. Entstanden ist ein kleines Sittengemälde jener Zeit, ein Stück Frankfurt/Main, wie es wahrscheinlich damals ausgesehen, gelebt und geliebt und ausnahmsweise auch mal gemordet hat, und dies selbstverständlich um des Profites willen. Da gibt es keine literarische Effekthascherei, sondern eine solide, fast beschauliche Schilderung des gutbürgerlichen und weniger gutbürgerlichen Lebens rings um die Zeil, eines Lebens mit stets ehrbarem Schein und oft unsozialem Sein, eines wohlanständigen Alltags, da ein treusorgender Familienvater das minderjährige Dienstmädchen schwängert und eine treusorgende Hausfrau diese ehrlose Schlampe aus dem Hause jagt.

Die genaue, auch im Detail gelungene und durchaus differenzierte Milieuschilderung ist mit einem bekömmlichen Schuß Ironie gewürzt, nicht aufdringlich untergemischt, eher genüßlich auf die handelnden Personen verteilt. Der aus Berlin versetzte Kommissar (dem leider jegliche Merkmale seiner Charlottenburger Herkunft fehlen) bekommt wegen pomadiger Ermittlungsarbeit ebenso einen ironischen Tropfen ab wie der unprofessionelle Polizeiarzt, der die Todeszeit des Maßschneiders nicht annähernd genau feststellen kann, allerdings hat er im friedlichen Frankfurt auch zu wenig Übung. Die deckchenhäkelnden und bestenfalls Armensuppe austeilenden Damen der besseren Gesellschaft werden in ihrer Scheinheiligkeit ebenso vorgeführt wie ihre Gatten, die Herren Stadtverordneten, deren Bibel die Brieftasche ist.

Genau und stimmig sind auch die Momentaufnahmen aus dem Milieu der armen und ärmsten Leute, namentlich der doppelt und dreifach ausgepowerten Frauen, die sich für ihre Familien von früh bis spät schinden. Die Parteinahme der Autorin ist unverkennbar. Der politische Hintergrund jener Zeit - Sozialistengesetze und Spitzelpraxis, Frauenrechtsbewegung und sozialdemokratische Agitation, Animosität der Hessen gegen das preußische Deutsche Reich des Otto von Bismarck - ist sichtbar, ohne die Romanhandlung zu belasten. Ob die rührige, kriminalistisch begabte junge Dame sich von den Frauenrechtlerinnen wird anstecken lassen, bleibt ebenso offen wie ein mögliches Happy-End in den Armen des Kriminalkommissars. Die Geschichte endet mit der Aufklärung des Mordes, sich danach eine Romanze oder eine Schnulze zu denken oder nicht zu denken ist dem Leser überlassen, und das ist gut so.

Wer das Frankfurt von damals und damit ein Stück deutscher Gesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts kennenlernen möchte, und zwar aus kritischer Sicht und dennoch in einer fast anheimelnden Atmosphäre, ist mit diesem Roman-Erstling von Hilal Sezgin gut bedient. Er unterhält, bietet Sozialkritik und bildet. Man möchte das Buch auch jungen Leuten empfehlen, die nichts von jener Zeit wissen. Frau Sezgin arbeitet als Redakteurin bei der „Frankfurter Rundschau”. Sie hat einen türkischen und einen deutschen Paß. Dieser Roman weist sie auf besondere Weise als eine deutsche Autorin aus. Und sie hat ein Herz für die kleinen Leute, was heutzutage auf dem literarischen Markt eher die Ausnahme ist.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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