Rezension von Gisela Reller



Zuweilen fehlen, wie in einem kaputten Kamm, ein paar Zacken...

Jelena Schwarz: Das Blumentier
Gedichte.
Aus dem Russischen von Alexander Nitzberg.
Grupello Verlag, Düsseldorf 1999, 176 S.
 

Das Blumentier ist innerhalb der Reihe Chamäleon, die ausschließlich russische Literatur präsentiert, der Band 7 und der erste, der zeitgenössische Literatur vorstellt. Die bisherigen Bände waren Futuristen, Symbolisten, Akmeisten (Burliuk, Majakowskij, Senkewitsch...) gewidmet.

Jelena Schwarz ist in Deutschland nahezu unbekannt, nur eine einzige Veröffentlichung von ihr, das Gedicht „Ein kaltes Feuer brennt an den Knochen entlang”, erschien 1997. Wieder also von Alexander Nitzberg, dem Herausgeber der Reihe, eine literarische Entdeckung. Wer ist diese Dichterin?

Jelena (Andrejewna) Schwarz wurde 1948 „an der Ecke von Lawrow und Tschernyschewskij” geboren. Sie unterstellt dem Leser, zu wissen, daß sich „diese Ecke” im damaligen Leningrad befindet. „Mein Vater”, schreibt sie, „hieß Andrej Dschedschula, er starb vor langer Zeit, und ich habe ihn nie gekannt. Dschedschula - das kommt von Dschedschalij, es gab mal einen Oberst und Gesandten bei Bogdan Chmelnizkij mit diesem Namen; er war ein getaufter Tatare, später haben sich die Dschedschulas noch weiter vermischt ... Es ist also eine jüdisch-slawisch-tatarisch-zigeunerische Mischung entstanden.” Jelena Schwarz absolvierte 1971 das Leningrader Institut für Theater-, Musik- und Filmwissenschaften, sie, die seit dem 13. Lebensjahr Gedichte schreibt, lebt als Lyrikerin, Übersetzerin, Essayistin im heutigen St. Petersburg. Ihre Texte wurden seit den sechziger Jahren im „Samisdat” publiziert, Einzelveröffentlichungen erschienen in New York, Paris, Ann Arbor, Newcastle, Belgrad ... Seit der Perestroika veröffentlicht sie auch in russischen Zeitschriften; seit den neunziger Jahren erschienen in Rußland fünf Gedichtbände von ihr. 1999 erhielt die Dichterin die literarische Auszeichnung „Palmyra des Nordens”.

Jelena Schwarz verfaßt sowohl lyrische Gedichte als auch größere, zum Teil episch angelegte Versdichtungen. In den Gedichten, so meint sie, sollte der Leser, wie der Wanderer in einer Taiga-Hütte, alles das finden, was er fürs erste benötigt: Streichhölzer, Brot, Salz, eine Axt, daneben einen Brunnen. Da es sich bei diesem Band nur um eine, wenn auch repräsentative, Auswahl ihres Werkes handelt, muß man der Autorin glauben, daß sich all diese Gegenstände in ihrer Gesamtdichtung finden, und sich auch „Musikinstrumente, sonstige Instrumente (Werkzeug), fast alle Vogel- und Tierarten, entfernte Begriffe, Kleidung, Geld, Geschirr, Blumen finden lassen”. Obwohl Jelena Schwarz durchaus keine realistische Poetin ist! Natürlich seien nicht alle Gegenstände in ihren Gedichten zu finden, aber alle Gattungen, Reihen, „in denen zuweilen, wie in einem kaputten Kamm, ein paar Zacken fehlen”. Jelena Schwarz nennt diese „Gegenständlichkeit” eine Besonderheit ihrer Lyrik.

Und es gibt mehr Besonderheiten: Eine weitere ist ihre Andersartigkeit bei Themen und Motiven. So schreibt sie in „Die körperlose Wollust” über das Königspaar Dagobert und Nantilde, deren Skelette, wie die aller französischen Könige, ausgegraben und in eine Kalkgrube geworfen wurden:

„Sollten wir uns im Himmel nicht finden,
abgeschüttelt die Knochen und den Staub?
Mein Staub hatte deinen so lieb.
... Doch welch ein Wunder, Dagobert,
welch ein Wunder: Ich seh
dein Gesicht und an deinem Finger
den Ehering wie eh und je!
O Nantilde - Dagobert,
Dagobert - Nantilde!
Stimme:
Was spart ihr an Kalk?
Schüttet drüber!

Ich will den Leser nicht des Vergnügens berauben, die vielen weiteren Besonderheiten in der Lyrik von Jelena Schwarz selbst zu entdecken. Ganz erstaunlich die Bildervielfalt in ihren Gedichten und die ganz und gar gegensätzliche Thematik in ihren Versen: Mythisches wie Konkretes, Heiteres wie Tragisches, Mystisches wie Ketzerisches.

Bewundernswert, die unadäquat-adäquaten Übertragungen von Alexander Nitzberg. Der des Russischen kundige Leser kann sich von der Güte der Übertragungen selbst überzeugen, denn wie immer in der Chamäleon-Reihe erscheinen alle Gedichte zweisprachig russisch und deutsch. Leider steht (in allen Büchern?) neben den russischen Gedichten auf den Seiten 26 bis 31 jeweils eine zu einem anderen Gedicht gehörende Übertragung.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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