Rezension von Friedrich Schimmel



Grausamkeiten und Sehnsüchte

António Lobo Antunes: Portugals strahlende Größe
Roman.
Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann.
Luchterhand Literaturverlag, München 1998, 448 S.
 

Es ist der 24. Dezember 1995 in Lissabon. Carlos, vor achtzehn Jahren aus Angola vertrieben, hat zum Weihnachtsabend seine Geschwister, die er seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen hat, eingeladen. Er wartet, und während er wartet, füllt ihm seine Frau Lena „den Teller mit Dampf”, um sofort auch im Dampf zu verschwinden. Warten, Erinnern, Kommen und Gehen, dies ist der stete Wechsel in dem kunstvoll erzählten Roman der Grausamkeiten und der Sehnsüchte von António Lobo Antunes. Fünf Erzähler hat der Roman, sie treten plötzlich auf, um rasch wieder zu verschwinden, sind anwesend abwesend, erinnern sich erduldeter Pein, gräßlicher Grausamkeiten aus den Zeiten des Krieges in Angola. Sie sprechen wie in einem Fluß, und der Leser hat einige Mühe, die verschiedenen Stimmen anfangs auseinanderzuhalten. Sie alle sind nach dem Sieg der Rebellen aus Angola geflohen. Weitab, noch in Afrika lebend, mischt sich die Stimme der Mutter unter die Monologe der Kinder. Sie erzählen raunend von den Geheimnissen ihrer Seele, von den Bildern der Zerstörung, blinder Wut im sinnlosen Kampf unter den Menschen. Nicht nur Schockerlebnisse haben sie hinter sich und in den quälenden Erinnerungen stets in sich, sie sind von einer Welt der Wildheit (Afrika) in eine Stadt gekommen, in der sie nie heimisch werden können. Sie empfinden das Leben als einen Fehler. Einsamkeit und Unglücklichsein sind für sie eins. Nicht allein Portugals Abstieg als Kolonialmacht wird zum Thema des Romans (deshalb auch der trockene Titel, ein Zitat aus der portugiesischen Nationalhymne, die psychische Schmach, immer wieder „Portugals strahlende Größe” zu besingen). Der Roman erzählt intensiv von den Veränderungen der Menschen durch Gewalt, von den Erlebnissen, Ängsten, Freuden und Zwiespälten seiner Figuren im Alltag. Ein aufregendes, ein erschütterndes Zeitbild entsteht. Immer ist von Macht und Ohnmacht die Rede. Und es versöhnt dann doch manchmal wieder mit dem Leben, wenn von der Stärke der Frauen (Großmütter, Mütter, Tanten) erzählt wird. In ihnen liegt vitale Energie, die Gewißheit, daß Leben nicht aufhören kann. Sie alle leben an der Seite geschädigter, verletzter Männer, denen es zukam, Anhängsel einer bedrohten, schließlich schwindenden Macht gewesen zu sein. So erscheinen diese Männer wie die zweifachen Verlierer. Opfer des Krieges, unterliegen sie nun der Obhut der Frauen. Sie sind schwach geworden, korrupt oder dem Suff verfallen. Wichtige Erfahrungen, die der Autor selbst gemacht hat. Lobo Antunes hat als Arzt an dem Krieg in Angola teilgenommen, zudem ist er seit vielen Jahren Chefarzt einer psychiatrischen Klinik. Er selbst hat als Militärarzt unter dem Salazar-Regime gelitten, Verletzungen, von denen in allen seinen Romanen die Figuren gezeichnet sind.

Antunes kennt die Hölle, die des Krieges und die des Alltags zerstörter oder gescheiterter Menschen. Daß es in diesem Roman gerade ein ganz besonders zurückgesetzter Mensch ist, der Kontakte wiederherstellen will, macht sein Begehren, wieder menschlich unter Menschen zu leben, so eindringlich. Jahrelang hat Carlos die an ihn gerichteten Briefe nicht gelesen, er wollte nicht, konnte nicht, weil er auch in der Familie als Adoptierter und Zurückgesetzter Abscheu und Haß zur Genüge erfahren hat. Er war die Schande, und das hieß, er mußte das Opfer unter den anderen Gedemütigten sein. Auch die Unglücklichen suchen sich immer noch einen, dem sie es heimzahlen können. Das Fazit: Was eine familiäre Zwangsgemeinschaft war, muß auch in der Erinnerung eine bleiben. Alle Hoffnungen sind Reflexe der Seele, und was noch zu sagen ist, wird nach innen erzählt. Diese Innenräume des Erzählers Antunes sind voller exotischer, phantastischer Bilder. Nie ohne einen Schuß Humor. Im Spiel der wechselnden Rollen, der plötzlichen Rufe, gar Befehle an die andern, die weitab vom Ort des Erzählens an ganz anderer Stelle ihren einsamen Gedanken und bunt gesplitterten Erinnerungen nachhängen, entsteht eine „unterirdische” Kommunikation. Diese Welt ist morbid und monströs, zeigt alle Seiten des noch schönen und schon scheußlichen Lebens, das zwischen Menschen, von Gier und Macht angestachelt, möglich ist, Wirklichkeit werden kann. Überall und jederzeit. Die Mutter Isilda schildert das chaotische, verstörend-zerstörerische Klima in Angola einmal so: „In mir ist etwas Schreckliches. Manchmal weckt mich das Raunen der Sonnenblumen, und ich fühle, wie mein Leib im Dunkeln des Zimmers anwächst mit dem, was kein Kind ist, keine Schwellung ist, kein Tumor, keine Krankheit ist, es ist eine Art Schrei, der nicht aus dem Mund, sondern aus dem ganzen Körper kommen und die Felder erfüllen wird wie das Heulen der Hunde, und dann höre ich auf zu atmen, klammere mich an das Kopfteil des Bettes, und die tausend Stengel des Schweigens schwimmen schwebend in den Spiegeln, warten auf die beängstigende Helligkeit des Morgens.”

Tag- und Alpträume in einer dichten, fließend-wuchtigen Sprache. Die Prosa des Portugiesen Lobo Antunes ist hart, lebendig, anschaulich-packend. Nichts Erkünsteltes, Nachrichten aus dem Leben, in dem Himmel und Hölle noch dicht beieinander sind, Grausamkeiten und Sehnsüchte und wenig Aussicht auf mehr.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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