Rezension von Friedrich Schimmel


cover  

„Die Stirn kriegt Falten”

 

Rainer Kirsch: Die Talare der Gottesgelehrten
Kleine Schriften.

Mitteldeutscher Verlag, Halle 1999, 106 S.

 

Wieder ein Fünfundsechziger! Eben war er noch einer unter den Lyrik-Talenten in der DDR, nun schon veröffentlicht er in seinen „Kleinen Schriften” späte Texte, ein paar Gedichte, etwas Prosa, Nachdichtungen. Rainer Kirsch, Jahrgang 1934, mit einem „sächsischen Hang zur Genauigkeit”, wie er über sich sagt, wird längst zur sogenannten sächsischen Dichterschule gerechnet. Von der man so ganz Genaues nichts weiß, nur steht fest, daß es sich um Dichter dieses Landes handelt. Studiert hat der sächsische Dichter Kirsch Geschichte und Philosophie, ohne Abschluß, worüber er einst und jetzt froh zu sein scheint. Nicht wegen schlechter Noten wurde er in Jena geext, sondern wegen ein paar Gedichtzeilen, die biedereifernde Genossen nicht oder sehr wohl verstanden hatten. Zur Erinnerung, Kirsch schrieb, und in diesem Band kommt es innerhalb eines Gesprächs noch einmal aufs Papier: „Sie tragen / Ihr Bewußtsein im Knopfloch / Und das Parteibuch / Entsichert in der Hosentasche. // Schwingend / Die Keule ihrer Erfahrung / Predigen sie stolz / Den letztverordneten Katechismus. // Hätten sie ein Gehirn / Sie ließen es rot anstreichen / Und trügen es als Fahne / Vor sich her.”

Gar nicht übel, das läßt sich noch immer lesen. Und es zahlt sich aus, wenn einer, der Gedichte schreibt, auf dem eigenen Wort beharrt. Zur „Strafe” ging auch Kirsch seinerzeit ein bißchen „in die Produktion”. Er arbeitete in einer Druckerei, in einem Chemiewerk und in einer LPG (also landwirtschaftlich, falls neue Leser nicht mehr wissen, was LPG war). „Übrigens”, meint er in dem Gespräch mit Gisela Roethke (April/Mai 1993), das hier unter dem Titel „Die Talare der Gottesgelehrten” abgedruckt ist, „habe ich die körperliche Arbeit nie als demütigend empfunden, sie war nur - ausgenommen die Arbeit auf dem Acker, die habe ich manchmal genossen - langweilig. Das Eigentliche kam danach: ein bißchen ausruhen, dann Klavier üben und schreiben. Ich wundere mich heute, wie ich es bei einem so vollen Sechzehnstundentag auch noch fertigbrachte, mich zu verlieben.” Salopp hergesagt, na ja, in einem Gespräch. Immerhin handelt es sich bei dieser Verliebten um Ingrid Bernstein, die bald danach unter dem Namen Sarah Kirsch mit Gedichten weitum auffiel.

Immer seltener wurde hingegen in den letzten Jahren der Dichter, Essayist, Nachdichter und Dramatiker der kleinen Form Rainer Kirsch wahrgenommen im Bild der Öffentlichkeit. Er hat ganz wenig geschrieben. Blättert man dieses Bändchen durch, dann stammt das meiste aus vergangenen Jahren, es beginnt mit kurzen Texten aus den siebziger Jahren. Aber nicht grundlos, schon gar nicht sinnlos. Da steht noch einmal zu lesen Pointiertes über den Ungehorsam bei Gelegenheit eines Kleist-Stückes. „Implikationen aus ,Prinz von Homburg`” endet mit einer scharfen Kritik an den damaligen Zuständen im Osten: „Was Kleists Schauspiel insgeheim ins Bild bringt, ist die innere Aporie der preußisch-spartanischen Staatsform; es weckt so, ohne daß der Dichter das gewollt haben mag, als Gegen-Bild die Utopie eines Gemeinwesens, das Ungehorsam nicht nur duldet, sondern aus sich fördert: eines Staates, der sich statt als Zweck als Mittel zur Bildung von Persönlichkeiten begreift und damit auf seine eigene Aufhebung hinarbeitet.”

Immer wieder der Blick auf die siebziger Jahre. Und mit damaligem Wort auf die Gegenwart. Der Text „Wertschätzung der Umfelder - Zum Begriff des Nationalen”, im November 1978 geschrieben (wo zuerst gedruckt, darüber gibt es generell keine Hinweise in diesem Bändchen - ein Manko!), setzt sachliche und ironische Akzente. Will sogar utopisch-überzeitlich sein. Unter Nation „verstehen wir (da ist es wieder, dieses verbügelte Ich im Wir! F.S.) eine im Verhältnis zur Erdbevölkerung große Menschengruppe gleicher Sprache, die ein zusammenhängendes Territorium bewohnt, untereinander relativ frei verkehrt und austauscht und über einen Fundus gemeinsamer Traditionen (Kultur) verfügt ...”

Das immer wiederkehrende „Wir” war vermutlich dem Selbstzensor im Dichter geschuldet, der wußte, wie man sich dennoch mitteilen konnte im Konzert der Stimmen im Nebel. Es ist eine redliche Replik, aber der Leser darf auch dabei schmunzeln: „Die Weltgemeinschaft freier Individuen, die wir erträumen, wäre dann vorzustellen als assoziiertes Nationen-Ensemble, innerhalb dessen auf die eigentlich artrelevante Frage: was, angesichts des Todes, die beste Art zu leben sei?” Vertrackte Gedanken-Wege, vertrackter Stil, für einen guten Lyriker doch überraschend. Übermütig tanzende Ideen-Bälger.

Die Schleier der Vergangenheit, sie durchziehen dieses dünne Bändchen unaufhörlich. Mal sind es die Wetterzeichen in den Texten der siebziger und achtziger Jahre, dann ist es der Druck jener Welle, die nach dem Wegfall der Mauer den Ost-Autoren nicht nur Ohrensausen, sondern Existenzsorgen brachte. Und dazu noch die unseligen Verdächtigungen und Rechtfertigungen. In dem Minidrama „Der Mehrzweckschreibtisch” geht es um Quasi-Stasi-Verdächtigungen. „Die Person”, zwei Befragern ausgesetzt, meint: „Eben dadurch, daß ich mit Ihnen nicht zusammengearbeitet habe, hätte ich mit Ihnen zusammengearbeitet.” Das Geflecht der Mithörer war diffus, aber auch penetrant penibel, ätzend, zerstörend. Aber auch schwer erklärbar. Wenn einer der Befrager sagt: „Manche von uns unterhielten sich bloß mit Ihren gepfefferten Sätzen, wer keinen wußte, zahlte den Cognac”, dann ist das die real erinnerte Groteske aus den schönen bunten Zeiten der nicht ganz waschechten DDR.

Anfang der neunziger Jahre schreibt Kirsch über Mandelstam, kann es aber nicht unterdrücken, auch die „Vorbeter des Zeitgeistes” mit einzubeziehen. Im Fragment „St. Gödel und das Naturschöne” (1992) fragt Rainer Kirsch: „Woran erkennt man das Pfeifen des Zeitgeistes?” Er antwortet mit Hegel oder Karl Kraus, nur mit seinem eigenen Urteil ist er zurückhaltend. Er weiß, mit Mandelstam, daß dieses Jahrhundert „das wölfische” ist, plädierte auch einmal vor Jahren gegen den Abriß des Berliner Lenin-Denkmals, damit es „künftige Generationen unaufwendig über die Häßlichkeiten einer Epoche” unterrichten möge. Rainer Kirsch ist nachdrücklich für eine „Kultur des Umgangs miteinander”, spricht für Tugenden, Ideale, gar für Utopien. Er dichtet unaufhörlich Petrarca-Sonette, erinnert wehmütig-liebevoll an den sächsischen Dichter Richard Leising: „Es ist seltsam zu lesen, wie die Gedichte gleichwohl zueinander gehören und miteinander, und zu uns, über die Zeiten weg reden.” Über die Zeiten hinweg, ja, das ist vielleicht der Kern der Dinge, worüber Rainer Kirsch nachsinnt. Einst schrieb er, die Zukunft seines lyrischen Ichs ergrübelnd: „Wem schon gelingen mehr als dreißig wirklich große Gedichte? Schon zehn sind viel.” Georg Maurers gedenkend, heißt das heute (der kleine Text ist von 1998): „Eine Vergangenheit aufarbeiten, hätte Maurer gesagt, meint, man schneidet und näht sie so zurecht, daß man sich damit wieder sehen lassen kann.”

Besser noch ist es „Petrarca mürrisch” zu zeigen und selbstredend wieder so zu beginnen: „Ich weiß, was ich so weiß, oft ziemlich ungern. / Die Stirn kriegt Falten, und das Herz sucht Ruhe. / Besser als ein Aug offen sind zwei zue. / Der zu scharf blickt, sieht füglich seinen Unstern.”


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite