Rezension von Volker Strebel



Deklarationen des befreiten Sprachlauts

Roman Jakobson: Meine futuristischen Jahre
Aus dem Russischen von Brigitte von Kann.
Herausgegeben von Bengt Jangfeldt.
Friedenauer Presse, Berlin 1999, 155 S.
 

Der 1982 in den USA verstorbene Literaturwissenschaftler Roman Jakobson hat ein bahnbrechendes wissenschaftliches Werk hinterlassen. Seine „Poetik” wie auch seine „Semiotik” zählen zu den grundlegenden Hinführungen auf dem Gebiet der strukturalen Textwissenschaft. Von Haus aus war Roman Jakobson Linguist, aber zu jeder Zeit seiner durchaus schillernden Lebensabschnitte hatte er sich der Literatur und deren Schöpfern, den Schriftstellern und Dichtern, nahe gefühlt. Der tschechische Dichter und Nobelpreisträger Jaroslav Seifert bestätigte dies im Kapitel „Russische Blinys” seiner Lebenserinnerungen Alle Schönheiten dieser Welt. Im Prag der 20er Jahre hatte der junge russische Wissenschaftler Roman Jakobson die Sympathien der tschechischen Dichter und Schriftsteller ebenso wie die tschechische Sprache schnell erworben, und einer gemeinsamen vitalistischen Grundeinstellung folgten bald ausschweifende Erlebnisse.

In diesen Erinnerungen spricht Roman Jakobson aus erster Hand über seine persönlichen Begegnungen mit russischen Dichtern wie Welimir Chlebnikow, den er auch noch als weltberühmter Wissenschaftler als den „größten Dichter dieses Jahrhunderts” bezeichnete, mit dem jungen Boris Pasternak, mit Lew Krucenych und vor allem mit Wladimir Majakowskij, dem Enfant terrible der russischen Avantgarde. In der Atmosphäre St. Petersburger und Moskauer Künstlerkaffees und Kneipen treffen sich die jungen Literaten, tauschen Meinungen und Manifeste aus und halten ebenso Kontakt zu Musikern und Malern: „In unserer ganzen Generation hat es eine extrem enge Verbindung zwischen der Poesie und den Bildenden Künsten gegeben. Da war die Frage der einander ausgesprochen ähnlichen Grundelemente, die in der Poesie die Zeit und in der Malerei den Raum ausfüllen, dann die Frage aller möglichen Zwischenformen, der unterschiedlichsten Formen der Collage. Dieser Übergang von der Linearität zur Gleichzeitigkeit faszinierte mich sehr.” Lediglich durch ein atmosphärisches Mycel mit den russischen Futuristen verbunden ist in Deutschland Ernst Blochs „Ästhetik des Vor-Scheins”, jener Versuch, das potentiell Kommende als bereits in die Jetzt-Zeit hineinreichend zu begreifen. Ihren kreativen Optimismus schöpfte diese Generation aus dem Bewußtsein, noch Bedeutendes an Entdeckungen und Erlebnissen vor sich zu haben. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs versammelten sich die ungestümen Dichter von St. Petersburg mit dem italienischen Futuristen Marinetti, der in Rußland zu Gast war, im deutschen Restaurant „Alpenrose”, um sich mit ihm sofort zu streiten. Jakobson, der die französische Sprache gut beherrschte, mußte übersetzen und stellte fest, daß Marinetti den russischen Futurismus überhaupt nicht verstanden hatte.

Für den reifen Wissenschaftler Roman Jakobson war klar, daß diese lebende Jugend seine späteren Forschungen angereichert hat: „Die Tatsache, daß mir der Kontakt zu Malern erhalten geblieben war, daß ich dabei war, Kontakt zu Dichtern zu knüpfen und daß zwischen Linguistik und Poesie immer eine klare Verbindung gestanden hat - all das entschied über das Weitere.”

Der Formenreichtum der russischen Sprache erlaubte den Avantgardisten unerschöpfliche - und auch unübersetzbare - Möglichkeiten in der Auslotung der Sprache. Der Begriff ZAUM steht für diese frühen dichterischen Ergebnisse, die ganz im Sinne Roman Jakobsons Dichtung als Deklaration des freien Worts, des befreiten Sprachlauts klassifizierten. ZAUM ist eine Wortverbindung, die auf Hintergründiges anspielt, sich jenseits des rein Verstandesmäßigen ansiedelt. Daß in der Friedenauer Presse die vorliegenden Erinnerungen Roman Jakobsons schön aufgemacht vorliegen, ist ein Verdienst des schwedischen Slawisten Bengt Jangfeldt, der Ende der 70er Jahre mit Roman Jakobson auf der Insel Gotland insgesamt zwölf Gespräche geführt hat, die alle mit dem Tonband aufgezeichnet wurden. Bengt Jangfeldt hat diese Erinnerungen von Roman Jakobson auch zusammengestellt und 1992 in Stockholm zum erstenmal veröffentlicht.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
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