Rezension von Waldtraut Lewin


cover  

Nun beißen sie wieder!

 

Thomas Harris: Hannibal
Roman.
Aus dem Amerikanischen von Ulrich Bitz.

Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1999, 527 S.

 

Wir erinnern uns: Nachdem Jodie Foster alias Agent Clarice Starling aufgrund der tiefenpsychologischen Informationen, die sie vom Menschenfresser Dr. Hannibal Lecter im Austausch gegen eigene Seelenängste erhalten hatte, einen geisteskranken Verbrecher gestellt hatte, war Anthony Hopkins - Verzeihung, ich meine natürlich Dr. Lecter - mit List und Tücke aus der Haft entwichen und untergetaucht. Schon damals hatten wir so ein Gefühl, daß wir ihm wiederbegegnen würden; beileibe nicht in natura, gottbehüte!, aber doch auf Buchseiten. Und siehe, da ist er schon.

Sieben Jahre ist es nun her, und die arme Clarice hat wider Erwarten beim FBI nicht so richtig Karriere machen können - vor allem deshalb, weil ein Fiesling im Justizministerium, der ihr erfolglos an die Wäsche wollte, alles tut, um sie kaltzustellen. Nachdem sie als „Killer Clarice” in die Boulevardblätter eingegangen ist (eine großangelegte Festnahme mißglückte ihr), scheint sie endgültig am Ende zu sein. Da setzt man sie noch einmal auf Hannibal an - schließlich ist sie jemand, die den perversen Ästheten und hochintelligenten Kannibalen in- und auswendig kennt. Clarice setzt sich auf die Spur. Aber sie ist nicht die einzige, die unseren Menschenfresser sucht, der übrigens inzwischen nach den notwendigen kosmetischen Operationen in Florenz die Stelle eines Kurators des Palazzo Capponi einnimmt, nachdem er seinen Vorgänger hat verschwinden lassen - ein Leben zwischen alten Gemälden, Bach-Musik, erlesenen Speisen und Renaissance-Dichtkunst. Der schwerreiche Schlachthofbaron Mason Verger, von Hannibal einst verstümmelt und als lebendiger Leichnam dahinvegetierend, setzt Millionen auf die Ergreifung seines Peinigers aus, um an ihm seine ebenfalls bestialischen Rachegelüste zu befriedigen, und soviel Geld kann auch die Polizei nicht widerstehen. Ein Haufen Leute arbeitet daran, Hannibal, wenn sie ihn denn erst haben, Verger ans Messer zu liefern - wobei „Messer” vergleichsweise human klingt gegen das, was Verger vorhat: Hat er doch eine spezielle Sorte Schweine „auf Mann dressieren” lassen und freut sich nun darauf, unseren Kannibalen stückweise und lebend diesen lieben Tierchen vorzuwerfen. Aber wir haben ja zum Glück Clarice mit ihrem extremen Sinn für Gerechtigkeit und ihrem Einfühlungsvermögen in die Lectersche Seele, die den Verbrecher zwar im Knast, aber nicht gefoltert sehen möchte. Außerdem weiß sie, daß Hannibal sie liebt, läßt er ihr doch immer wieder und aus allen Ecken der Welt Botschaften und Geschenke zugehen.

Clarice rettet also im letzten Moment den bösen Schöngeist vor dem noch böseren Schlachthausbaron, überläßt diesen der viehischen Rache seiner von ihm einst mißbrauchten und später gedemütigten Schwester und verfällt Hannibal hoffnungslos. Vom verliebten Monster erst unter Drogen, dann durch Hypnose und psychische Manipulation in eine Welt jenseits der Realität entführt, mutiert sie zur adäquaten Partnerin des Doktors, und nachdem sie erst bei einem köstlichen Festmahl an Hannibals Seite das Gehirn ihres Erzfeindes verspeist hat (dieser sitzt noch lebendigen Leibes dabei), gibt es kein Halten mehr. Beide hauen ab nach Lateinamerika und leben dort in Saus und Braus - ob sie weiter Leute fressen, bleibt unerwähnt. Jedenfalls wendet sich ein ehemaliger Bekannter, der sie in Buenos Aires erkennt, rasch zur Flucht. Hätte ich sicherheitshalber auch gemacht.

Pfui Teufel, kann man da nur sagen. Und das alles wird nun schon wieder verfilmt. Wie man das optisch ertragen soll, weiß ich nicht. Es war schon so unausstehlich genug. Thomas Harris' zweites Buch um Hannibal hat, so finde ich, mehr Raffinesse als das erste, es ist mit einem abgefeimten Hang zur Ästhetik geschrieben und hat Passagen von großer Eleganz und einer gleichsam auf leisen Sohlen daherschleichenden Bosheit, die so wirken, als hätte Dr. Lecter selbst sie verfaßt. Man hat sich gefragt, wie es Harris gelingen würde, Das Schweigen der Lämmer an Grauen noch zu überbieten. Nun, es gelingt ihm tatsächlich. Der Trick ist, die ästhetische Bestialität des Hannibal Lecter mit der ungeschminkten brutalen Bestialität des Fieslings Mason Verger zu überbieten, dessen Taten einst und jetzt von derartig nacktem Sadismus sind, daß man ihm alles das gönnt, was der große Kannibale ihm angetan hat. Die Sympathien sind also von vornherein auf Lecters Seite, und je weiter wir im Buch fortschreiten, um so seltener zeigt er sich uns von seiner mörderischen Seite. Ganz im Gegenteil, Harris legt es nun darauf an, das Ungeheuer psychologisch zu motivieren. Wir erfahren von seiner heißgeliebten kleinen Schwester, die in Lettland als Kind von entmenschten verhungerten Deserteuren aufgefressen wurde - und nun wissen wir doch endlich, warum er so geworden ist. Clarice ist ausersehen, in seinem „Gedankenpalast” die Stelle der Schwester einzunehmen, ihr wieder zum Leben zu verhelfen. Das und noch mehr tut sie dann auch.

Harris gelingt das Kunststück, unsere Anteilnahme ganz auf Lecter zu konzentrieren. Seine schöngeistige Lebensart und seine Bildung, seine Intelligenz und Geistesgegenwart lassen ihn zu dem werden, den wir in diesem Buch gerettet sehen wollen, und Harris tut uns den Gefallen auf eine ganz abgefeimte, manipulierende Weise. Auf den letzten hundert Seiten wird Hannibal noch zwei-, dreimal „das Ungeheuer” genannt - da sind wir schon soweit, uns zu fragen: Wieso eigentlich? Wir sind der Faszination des Bösen, wenn es in so verfeinerter Form zu uns kommt, erlegen und finden es eigentlich nur gerecht, daß er Clarices Widersacher schlachtet und mit ihr gemeinsam verspeist. Er ist der Teufel, sagen die wissenden Zigeunerinnen in Mailand, denen er begegnet. Na bitte, soll er der Teufel sein. Aber ein so eleganter Teufel ...

Die letzten 50 Seiten des Buches, in denen die Umwandlung der Clarice Starling, ihre psychische „Befreiung” von der Vergangenheit und ihre Annahme der Stellvertreterrolle für die tote Schwester Hannibals geschildert werden, sind von sanfter diabolischer Eindringlichkeit - eine Meisterleistung des Horrorthrillers.

Man kann das Buch niemandem empfehlen. Es schüttelt einen, und vor allem ist man entsetzt über die eigenen Empfindungen angesichts dessen, was man da gerade konsumiert hat. Und wozu braucht das Buch eine Empfehlung? Es ist schon jetzt ein Welterfolg ...


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite