Rezension von Volker Strebel



Das ist recht - für die Engel schreiben

Egon Bondy: Die invaliden Geschwister
Aus dem Tschechischen von Mira Sonnenschein.
Elfenbein Verlag, Heidelberg 1999, 237 S.
 

„Wieder war es dunkel, wie schon den ganzen Winter über, und so beeilten sie sich, nach Hause zu kommen.” Der Cousin und die Cousine, im Roman nur A. und B. genannt, leben im Jahr 2600 auf der Schwelle zur sechsten wissenschaftlich-technischen Revolution. Die sogenannte zivilisierte Welt ist auf ein Inseldasein zurückgedrängt, da sich stinkende schwarze Gewässer auf einem stetigen Vormarsch befinden. In die Gesellschaft sind der Schriftsteller A. und B. nicht integriert, sie beziehen eine Invalidenrente und unterhalten Freundschaften und Besuche ebenfalls nur mit Invaliden. Ein großer Teil dieses Romans schildert kulturelle oder kommunikative Aktivitäten dieser Invaliden, die, von der offiziellen Gesellschaft geächtet, eigene, parallele Strukturen aufgebaut haben. Da gibt es invalide Physiker und Chemiker, die an Lösungen arbeiten, um eine Autonomie in der Herstellung synthetischer Nahrungsmittel zu erreichen. Vor allem aber finden invalide Ausstellungen in Wohnungen, aber auch im Freien statt, invalide Konzerte, die sich in rauschenden Orgien auflösen: „Das Stück war kurz, es dauerte nur etwas über drei Minuten. Als der letzte Tonschuß erklang und gleichzeitig die Ultraschallgeneratoren ausgeschaltet wurden, verharrte das hochrote und schweißgebadete Publikum mit trockenem Mund und zitternden Händen und Beinen. Zunächst empfanden alle einen Schmerz und anschließend den Fall in eine namenlose Tiefe, dorthin, wo vielleicht der Tod weilt oder die Ewigkeit - um erst eine Sekunde später offenen Mundes zu begreifen, daß alles nur Musik war.”

Im Unterschied zur etablierten Gesellschaft, die von einem konsumistischen Wertekatalog gekennzeichnet ist, feiern die Invaliden ihre Freiheit und Unabhängigkeit. Auf der Hut müssen sie dabei allerdings immer sein, denn die Gesellschaft ist ihrer Invaliden überdrüssig.

Als Egon Bondy diesen Text Mitte der 70er Jahre in Böhmen geschrieben hatte, war die kulturelle wie politische Situation seiner tschechischen Heimat von einer vergleichbaren aggressiven Haltung geprägt. Der 1931 geborene Egon Bondy, der bereits in den 50er Jahren zu den Unbotmäßigen zählte und lediglich in Alexander Dubceks Reformjahr 1968 drei seiner Bücher veröffentlichen konnte, hatte in den 70er Jahren halblegale Konzerte der legendären Rockgruppe Plactic People of the Universe miterlebt. In einer Prager Kneipe hatten sie sich kennengelernt, und die Plastic Peoples sowie der philosophisch ausgebildete und surrealistisch ausgerichtete Bondy fanden Gefallen aneinander. Etliche der unzähligen Gedichte von Egon Bondy waren von der Rockgruppe vertont worden.

Die kulturelle Parallelgesellschaft war in der „normalisierten” Tschechoslowakei Wirklichkeit geworden, und die Verhaftung und Anklage der Plastic Peoples seitens des Regimes bildete den Auslöser zur Formierung der Bürgerrechtsbewegung CHARTA 77. Václav Havel prägte in jener Zeit mit seinem Essay Von der Macht der Ohnmächtigen jenes kulturelle Milieu, das im vorliegenden Roman von Egon Bondy auf surreale Weise beschrieben und bespiegelt wird. Manche authentischen Figuren sind kaum verschlüsselt, wie der Lebenskünstler Vladimírek, der in Wirklichkeit der Graphiker Vladimír Boudník war, und treten - wie übrigens Egon Bondy auch - in Texten von Altmeister Bohumil Hrabal ebenfalls mehr oder weniger unverdeckt in Erscheinung.

In einem Gespräch des Cousins A. mit Lew Dawidowitsch Mandelbaum, einer Figur, die sich offensichtlich an Leo Trotzkij ausrichtet, lehnt A. eine Revolution gegen die bestehenden Verhältnisse ab. Er fürchtet sich davor, daß lediglich Führungen ausgetauscht werden: „Es kommt darauf an, was die Menschen wollen. Und die wollen sich nicht selbst führen. Es würde sie viel zuviel Anstrengung und Mühe kosten. Verantwortung würde auf ihnen lasten. Wo Freiheit ist, ist nämlich auch Verantwortung und selbstverständlich auch Risiko.”

A. hat es erlebt, als seine schwangere Cousine die Gewässer beschimpfte, daß diesen Einhalt geboten werden konnte. Ihm wurde die unermeßliche Kraft bewußt, über die Menschen verfügen können: „Die Umstände hörten auf, Gewalt über ihn zu haben. Er bekam Gewalt über sie. In solchen Momenten wurde Undurchführbares durchgeführt.” Und deswegen schrieb und hoffte A., und sei es allein der Engel zuliebe!


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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