Wiedergelesen von Eberhard Fromm



Theodor Mommsen: Römische Geschichte

Die deutschsprachigen Nobelpreisträger (1)

 

Als 1999 Günter Grass den Nobelpreis für Literatur erhielt, wurde immer wieder darauf verwiesen, daß die deutsche Öffentlichkeit lange auf eine solche Auszeichnung warten mußte, lag doch der letzte deutsche Literaturnobelpreis für Heinrich Böll 27 Jahre zurück. In diesem Zusammenhang wurden auch die anderen deutschen Preisträger wieder ins Gedächtnis gerufen. Bei einigen wie Gerhart Hauptmann, Thomas Mann und Hermann Hesse fiel das nicht schwer. Doch daß Theodor Mommsen, Rudolf Eucken und Paul Heyse schon früh diese Ehrung erfahren hatten, war weniger bekannt. Und auch Nelly Sachs, die 1966 gemeinsam mit Paul Celan den Nobelpreis als Schwedin erhielt und die doch zu den größten deutschsprachigen Dichterinnen unseres Jahrhunderts gehört, sollte man nicht vergessen.

Im 20. Jahrhundert sind nahezu hundert Dichter, Dramatiker und Schriftsteller mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet worden. Namen wie Rabindranath Tagore aus Indien oder Romain Rolland aus Frankreich, Sinclair Lewis aus den USA oder Halldor Laxness aus Island, Boris Pasternak aus der damaligen Sowjetunion oder Pablo Neruda aus Chile stehen für die Weltliteratur des 20. Jahrhunderts. Aber auch die Philosophen Henri Bergson und Bertrand Russell und der schriftstellernde Staatsmann Winston Churchill sind unter den Preisträgern. Die deutschen Vertreter aus der Literatur und Wissenschaft befinden sich also in bester Gesellschaft. Und wenn es in diesem Metier einen Preis gibt, der Akzente setzt, der für weltweite Aufmerksamkeit und Anerkennung sorgt, dann ist es der Literaturnobelpreis.

Theodor Mommsen erhielt 1902 als erster Deutscher den Nobelpreis für Literatur. Vor ihm war er 1901 zum erstenmal überhaupt an den französischen Lyriker Sully (René Françoise Armand) Prudhomme (1839-1907) verliehen worden; unmittelbar nach Mommsen erhielt Björnstjerne Björnson (1832-1910) aus Norwegen diese Auszeichnung, ebenfalls ein Dichter und Dramatiker. Mommsen dagegen war Wissenschaftler. Ihm wurde der Nobelpreis zuerkannt „als dem größten lebenden Meister der Geschichtsschreibung in besonderer Anerkennung für seine monumentale Römische Geschichte”.

Am 30. November 1817 in Garding (Schleswig) geboren, ausgebildet als Rechtswissenschaftler, kam er 1858 nach Berlin. Hier lehrte er an der Universität und war aktiv in der Akademie der Wissenschaften tätig. Von seinem gewaltigen Arbeitspensum zeugen mehr als 1 500 Titel, wobei neben der mehrbändigen „Römischen Geschichte” solche Arbeiten wie Römisches Staatsrecht und Römisches Strafrecht zu den bedeutendsten zählen.

Mommsen vertrat seit seiner Jugend liberale Ansichten und geriet durch sein politisches Engagement mehrfach in Konflikte mit den herrschenden politischen Kräften. Er wirkte als Abgeordneter im Preußischen Landtag und auch im Reichstag. Im Berliner Antisemitismusstreit gehörte er zu jenen, die sich aktiv für eine öffentliche Abwehr des Antisemitismus einsetzten. Für ihn war der Antisemitismus ein organischer Schaden der Nation, „der nicht geheilt, sondern nur verwachsen werden kann durch die steigende Humanisierung der Deutschen”, schrieb er 1894 in der Anthologie Antisemitenhammer. Bis man dieses Ziel erreicht habe, sei es notwendig, „den groben Fälschungen und Verdrehungen der Antisemiten im Einzelnen zu antworten und auf den groben Klotz einen groben Keil zu setzen”.

Es ist also nicht verwunderlich, daß es immer wieder Attacken auf den politischen Menschen Mommsen gab. Und es gehörte bereits damals zu den Praktiken solcher Angriffe und Diffamierungen, daß man nicht bei der politischen Auseinandersetzung stehenblieb. So hieß es in einem Beitrag des „Kladderadatsch” v. 23.10.1881, der sich gegen Mommsen und Virchow als Repräsentanten des Liberalismus wandte: „Ueber die wissenschaftliche Bedeutung des Herrn Mommsen wollen wir uns kein Urtheil erlauben. Er soll ja ein Werk über die Römische Geschichte geschrieben haben... Uns ist dieses angeblich ,berühmte` Schriftchen noch nicht zu Gesicht gekommen.

... Bemerkt sei noch, daß der Name Mommsen, augenscheinlich aus Mommsohn entstanden, auf unfehlbar jüdischen Ursprung hindeutet.”

Als Theodor Mommsen am 1. November 1903 in Charlottenburg starb, verloren Akademie und Universität, aber auch die Berliner Öffentlichkeit eine hochgeachtete Persönlichkeit. Karl Kautsky schrieb über ihn in der „Neuen Zeit” (Nr. 6/1904): „War seine Weltanschauung auch nicht die unsere, so war es doch eine mit einem weiten Horizont, und wie immer eine solche Weltanschauung sein mag, sie gibt demjenigen, dessen Forschen und Denken sie befruchtet, ein gewaltiges Übergewicht über den an der Erde klebenden Empiriker oder Aufstapler zusammenhangloser Tatsachen.”

* * *

Mommsens Römische Geschichte entstand in den wichtigsten Teilen bereits Mitte der fünfziger Jahre: Drei Bände erschienen in Leipzig zwischen 1854 und 1856, ein fünfter Band kam 1885 heraus, ein vierter Band blieb ungeschrieben. Es ist so ein Werk des 19. Jahrhunderts; es ist im Geist und Stil dieses Jahrhunderts verfaßt. Aber es ist kein wissenschaftlicher Wälzer mit nur für den Spezialisten lesbaren Einsichten. Wenn man sich die Mühe macht, sich ein wenig in die Manier des Autors einzulesen, wird man bald gepackt. Denn hier wird die Geschichte einer Stadt und eines Weltreiches erzählt, die bis in die Gegenwart wirkt.

Mommsen erzählt die Geschichte Roms, wie sie ein Historiker erzählen muß: exakt, mit Fakten, mit der Darstellung der Verläufe und der handelnden Personen. Zugleich gestaltet er das historische Material so lebendig, daß man meint, einem Geschichtenerzähler zuzuhören. Man muß also weder vorgebildet sein in alter Geschichte noch mehrere Nachschlagewerke parat haben, um ihm folgen zu können. Er erzählt die Geschichte Roms - zumindest in den drei ersten Bänden - von der Entstehung, „wo uns die Geschichte zu dämmern beginnt”, bis zu dem Moment, da Gaius Julius Caesar die alleinige Macht in den Händen hält; es geht also über einen großen Zeitabschnitt.

Der Leser muß sich für dieses Werk natürlich ein wenig Zeit nehmen. Aber es lohnt sich. Denn wenn man diese Geschichte nicht als Lehr- oder Bildungsbuch liest, sondern aus Neugierde, was man noch alles von dieser Zeit weiß, was man alles an Neuem entdeckt und wie der Autor es anstellt, einem diese fernliegende Zeit nahezubringen - dann werden es unterhaltsame Stunden, Tage und wohl auch Wochen.

In Mommsens „Römischer Geschichte” gibt es drei unterschiedliche Bereiche, die mit Detailtreue dargestellt werden: Erstens ist es die innere Entwicklung Roms mit dem Parteienkampf, den wechselnden Fronten, den Hauptgegnern Aristokratie und Demokraten bis hin zum Bürgerkrieg. Wie in einem großen Kreislauf scheinen sich bestimmte Entwicklungen zu wiederholen: der Zuwachs an Macht in der Oligarchie, das Erstarren und Erschlaffen der herrschenden Kreise sowie das Anwachsen der Opposition, Revolution und Konterrevolution. Zweitens spielt die äußere Entwicklung des römischen Reiches eine zentrale Rolle. Plastisch werden jene verschiedenen Etappen vorgeführt, die zur Unterwerfung Italiens, zur Eroberung Griechenlands und des Ostens, zur Besetzung Spaniens und schließlich zur Eroberung Galliens führten. Die Schaffung des römischen Weltreiches vollzog sich vor allem in Kriegen und Feldzügen, in denen nicht selten grausam und brutal gekämpft wurde. Mommsen spricht dann warnend von jenen „entsetzlichen Barbareien der Zivilisation, wo die Gesittung plötzlich das Steuerruder verliert und die nackte Gemeinheit vor uns hintritt, gleichsam um zu warnen vor dem kindischen Glauben, als vermöge die Zivilisation aus der Menschennatur die Bestialität auszuwurzeln”. Bei den geschilderten Schlachten hat man das Gefühl, Mommsen sei ein Augenzeuge dieser Kämpfe gewesen, so genau und lebendig werden sie beschrieben.

Drittens sind es lebendige Biographien wichtiger handelnder Persönlichkeiten aus der langen Geschichte Roms, die aus der inneren und äußeren Entwicklung Roms herausragen und die unter der Hand Mommsens zu Glanzstücken seiner Geschichte werden. Liest man diese Ausführungen über einzelne Persönlichkeiten, meint man, Mommsen habe diese Männer selber gekannt, habe ihnen Auge in Auge gegenübergestanden.

Dazwischen findet man - immer wieder harmonisch eingefügt - Überlegungen und Ausführungen zu Einzelfragen wie der sozialen Entwicklung, dem Rechtswesen, dem Reformstau, der Wandlung der Militärdoktrin. Erstaunlich wenig erfährt man dagegen vom geistigen Leben dieser Zeit.

Mommsens Zeitgenossen haben ihm den Vorwurf gemacht, die ganze römische Geschichte auf Caesar als dem Höhepunkt der Entwicklung zuzuschneiden. Sicher ist Mommsen von Caesar fasziniert, dem „einzigen schöpferischen Genie”, das Rom hervorgebracht hat. Für ihn ist Caesar ein ganzer und vollständiger Mann, weil er „wie kein anderer mitten in die Strömungen seiner Zeit sich gestellt hatte und weil er die kernige Eigentümlichkeit der römischen Nation, die reale bürgerliche Tüchtigkeit vollendet wie kein anderer in sich trug...” Die weltgeschichtliche Leistung Caesars beschrieb er mit folgenden Worten: „Daß von Hellas und Italiens vergangener Herrlichkeit zu dem stolzeren Bau der neueren Weltgeschichte eine Brücke hinüberführt, daß Westeuropa romanisch, das germanische Europa klassisch ist, daß die Namen Themistokles und Scipio für uns einen anderen Klang haben als Asoka und Salmanassar, daß Homer und Sophokles nicht wie die Veden und Kalidasa nur den literarischen Botaniker anziehen, sondern in dem eigenen Garten uns blühen, das ist Caesars Werk...”

Es wäre jedoch einseitig, nur diese Hochachtung Caesars aus Mommsens „Römischer Geschichte” herauszulesen. Auch die biographischen Skizzen von Pyrrhos und Hannibal, von Tiberius und Gaius Gracchus, von Sulla und Pompeius sind von großer Lebendigkeit und stehen ebenbürtig neben dem Bild des Caesar.

Um Pyrrhos knüpfe sich ein wunderbarer Zauber, nicht zuletzt deshalb, weil er als erster Grieche den Römern im Kampf gegenübertrat; Sulla wird als der „Don Juan der Politik” bezeichnet; und zu Catalina, dem „Frevelhaftesten in einer frevelhaften Zeit”, meint Mommsen, daß seine Bubenstücke in die Kriminalakten und nicht in die Geschichte gehörten.

Ein anderer Einwand, der gegen Mommsen erhoben wurde, richtete sich gegen die modernisierende Betrachtung, gegen Vergleiche mit der Zeitgeschichte und gegen seine parteiliche moralische Haltung und Wertung. Ein Beispiel: Mommsen als Liberaler war ein konsequenter Gegner des preußischen Junkertums. In einem Artikel vom 13.12.1902 in der Zeitschrift „Die Nation” schrieb er zum Beispiel sarkastisch - indem er den Sozialdemokraten August Bebel hoch bewertete -, daß jedermann in Deutschland wisse, „daß mit einem Kopf wie Bebel ein Dutzend ostelbischer Junker so ausgestattet werden könnten, daß sie unter ihresgleichen glänzen würden”. In der „Römischen Geschichte” findet man diese Position dann wieder, wenn es dort spöttisch heißt „...die Engherzigkeit und Kurzsichtigkeit, die eigentlichen und unverlierbaren Privilegien alles echten Junkertums, verleugneten sich auch in Rom nicht und zerrissen die mächtige Gemeinde in nutz-, ziel- und ruhmlosen Hader”.

Für den heutigen Leser - zumindest ging es mir so - liegen hier gerade die provokanten Stellen des Buches; man wird herausgefordert zum Nachdenken, zum eigenen Urteilen, zum Einverständnis mit dem Autor oder zum Widerspruch. Man akzeptiert seine Maxime, die er einmal in einem Brief an seinen langjährigen Freund Otto Jahn so umschrieb: „Die Ordre, Geschichte zu schreiben ohne Haß und Liebe, könnte doch nun, seit wir auch Geschichte erlebt haben und auch erleben, endlich beiseite gelegt werden.” Viele der zeitgenössischen Bezüge, die Mommsen anstellt, gelten nicht nur für seine Zeit, sondern haben bis heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
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