Annotation von Horst Möller


 

Myrivilis, Stratis:
Die Lehrerin mit den Goldaugen
Aus dem Griechischen von Peter Henkel.
Romiosini Verlag, Köln 1998, 354 S.
 

Latenter Verfolgungswut kann man sogar auf der sanften Ägäisinsel Lesbos, Heimat der bittersüßen Lyrikerin Sappho (um 600 v. u. Z.), begegnen. Es braucht da eine Frau nur jung, ansehnlich, selbstbewußt, klug, mit allen Vorzügen ausgestattet, jedoch verwitwet zu sein, und schon ist sie unaufhörlichem Argwohn ausgesetzt. In dörflicher Inselidylle genügt von jeher die geringste Unbedachtheit, daß die Nachbarinnen den Sauerteig zum Brotbacken verweigern, daß die am Brunnen Versammelten davongehen, daß in der Kirche die Bankreihe gewechselt wird. Verfolgungsdrang muß ja nicht jedesmal gleich in offene Mordlust umschlagen wie auf der Insel Kreta des Nikos Kazantzakis. „Schlagt sie tot, schlagt sie tot, die Hure”, geifern in Alexis Sorbas die alten Weiber. Weil dort ein junger Kreter, der die Witwe Surmelina begehrte, sich aus Liebeskummer im Meer ertränkt hatte, wird sie, die Sittsamkeit in Person, vor aller Augen wie ein Opferlamm zu Ostern abgeschlachtet. Ein solches archaisches Los bleibt der Witwe des Leutnants Stratis Vranas, Titelgestalt in Die Lehrerin mit den Goldaugen von Stratis Myrivilis (1890-1969), zum Glück erspart. Im Gegenteil, sie erlebt in den Armen eines Mannes, wie ihr Herz sich ihn immer, das heißt eigentlich schon vor und auch noch während ihrer kurzen Ehe ersehnt hatte, ein mit aller Betulichkeit herbeigeführtes Happy-End.

Allerdings vollzieht sich die Love-Story dieses Romans, den Stratis Myrivilis 1933 veröffentlichte, vor dem schlimmen Hintergrund der kleinasiatischen Katastrophe von 1922. In Hellas hatte man über dem Sieg an der Seite der Entente die Opfer von 1918 erstaunlich schnell vergessen (den grausamen Grabenkrieg an der makedonischen Front hat Stratis Myrivilis beschrieben in Das Leben im Grabe). Am 5. Mai 1919 wurde Smyrna besetzt, da floß das Blut von 350 Türken. Als am 8. September 1922 die Türken Izmir zurückeroberten, kamen 30 000 Griechen und Armenier um, und danach wurden 380 000 Türken aus Griechenland und über 1 Million Griechen aus der Türkei ausgesiedelt. Die Anzahl verwitweter Frauen war hoch. Zu den Auswirkungen dieser Zwangsaussiedlung schreibt Richard Clogg in seiner „Geschichte Griechenlands”: „Die Flüchtlinge waren zum sichtbaren Ärger der konservativeren Elemente in der einheimischen Bevölkerung zahlreich genug und so dicht angesiedelt, daß sie das politische Leben der Zwischenkriegsperiode beeinflussen konnten. Einige der Enteigneten wurden von der kommunistischen Lehre der kurz zuvor (1918) gegründeten Kommunistischen Partei von Griechenland angezogen, deren Führer zum Teil kleinasiatischer Herkunft waren.”

Was Stratis Myrivilis vom besagten Ärger der Einheimischen in der unmittelbar betroffenen Kleinstadt Megalochori auf Lesbos mitbekommen hat, ist eingedenk der sonst üblichen Haßtiraden allerdings ziemlich verblüffend. Es heißt da: „Der Bürgermeister schwelgte in Erinnerungen an ... die ,gute` alte Zeit unter den Türken, als die Welt noch heil war, das Leben noch seinen beschaulich-ruhigen Gang ging, als man es sich noch mit einem Bakschisch bei einem Aga oder einem Bey richten konnte.” Nostalgische Regungen so ungewöhnlicher Art resultierten aus dem Ungemach, das verarmte Kriegsveteranen und Flüchtlinge aus Anatolien verursachten, indem sie ehemals türkische Landgüter besetzt hielten, an denen sich ansässige Kriegsgewinnler nachträglich fix die Rechte gesichert hatten. Wie sollte man nach höherem Ratschluß gerecht verfahren, da diese nun auf ihr Eigentum pochten, während jene sich an ihre Bleibe klammerten? Angesichts derartiger Nöte war man offenbar um so eher geneigt, den unglaublichen Skandal hinzunehmen, den die Witwe Sappho durch den Treuebruch gegenüber ihrem verblichenen Leutnant heraufbeschwor. - Wenn Titel des Romans und äußere Aufmachung des Buches etwa vermuten lassen, es handele sich hier ein weiteres Mal nur um einen der heutzutage gängigen Schmöker, dann täuscht dieser Eindruck ganz entschieden.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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