Annotation von Dominik Wohlraabe


 

Jörgensen, Dieter:
Der Rechenmeister
Roman.
Rütten & Loening Berlin, Berlin 1999, 400 S.

 

Der Rechenmeister ist in jeder Hinsicht eine gehirnakrobatische Lektüre. Handelt es sich doch um den berühmten Niccolo Tartaglia, Meister der Algebra, dessen Lösung der kubischen Gleichung nicht nur eine herausragende Leistung darstellt, sondern auch einen Durchbruch in der Mathematik des 16. Jahrhunderts bedeutete.

Ebenjener Tartaglia reist im Winter des Jahres 1555 nach Venedig. Die bedeutende Handelsstadt wird zu seinem Schicksal mit allen Höhenflügen und Abgründen. Er erhofft sich nicht nur sein materielles Auskommen in dieser Stadt, sondern auch den Ruhm, der ihm als einem der wenigen mathematischen Genies jenes Jahrhunderts trotz seines Gebrechens eigentlich zustünde.

Und sein Gebrechen wiegt schwer: Seit einem traumatischen Kindheitserlebnis stottert er. Das ändert zwar nichts an seinem geistigen Vermögen und an seinen Rechenkünsten, nur ist er kaum in der Lage, sich gegenüber den redegewandten Venezianern zu behaupten. Er wird zum Gespött der Leute; von Gassenjungen hämisch nachgeäfft, durchleidet er sein sprachliches Unvermögen mit jedem seiner sparsam gebrauchten Worte neu.

Dennoch gelingt es ihm, als Mathematiker Anerkennung zu finden. Sein Traum und Lebensziel wird es schließlich, alle seine gesammelten Erkenntnisse in einem mathematischen Traktat niederzulegen, um damit die Aufmerksamkeit des Herzogs von Urbino zu erringen. Ein Porträt, das ihn gemeinsam mit dem Herzog abbildete, würde nicht nur die Zeiten überdauern, sondern auch seinen Makel verbergen. Allerdings hat, wie in so vielen Gelehrtenstreits dieser Zeit, auch die Inquisition ein nicht unerhebliches fatales Mitspracherecht bei der Darstellung von Richtig und Falsch.

Etwas mühsam stottert sich die thematisch interessante Geschichte voran. Jörgensen ist durchaus nicht nur mit mathematischen Spezialthemen vertraut, sondern auch ein guter Erzähler. Aber der Grundgedanke der Story, die Thematisierung eines Gebrechens - des Stotterns - als Kontrapunkt zu hochfliegenden geistigen Leistungen, wird dermaßen überstrapaziert, daß es den Rezensenten schließlich ermüdete. Dies um so mehr, als Stotterer eben nicht unentwegt über ihren Mangel reflektieren, wie der Autor suggeriert, sondern diese ihnen eigentümliche Sprechweise durchaus als eine Art von „Muttersprache” begreifen. Somit kommt diesem Handicap nicht mehr Bedeutung zu als jeder anderen Art von „Behinderung”, der man mit den Mitteln des Geistes zu entfliehen vermag und mit der man immer noch ein erfülltes Leben leben kann. Etwas weniger wäre mehr gewesen. Die Passagen, in denen Tartaglia einfach als Mensch mit all seinen Fähigkeiten, Leidenschaften, auch Ängsten agiert, sind überzeugend und berührend. Die Epoche ist mit scharfem Blick für Details eingefangen, die Sprache ist reich, bildhaft und bisweilen poetisch.

Der Autor, Dieter Jörgensen, ist von Beruf Ingenieur und veröffentlicht in der Fachpresse Publikationen zu Problemen der angewandten Mathematik. Das vorliegende Buch ist sein erster Roman.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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