Annotation von Gudrun Schmidt


 

Bretthauer, Bastian:
Die Nachtstadt
Tableaus aus dem dunklen Berlin.
Campus Verlag, Frankfurt/M. 1999, 220 S.

 

Titel und Untertitel sind trügerisch. Wer ein Buch über Berlins aufregend-chaotisches, verruchtes nächtliches Leben erwartet, muß umdenken. Statt Szeneführer ein Exkurs über nächtliche Wahrnehmungen, Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Forschungen und literarischen Reflexionen, Erkundungen in Bekanntes und Unbekanntes. Über zwei Annoncen in Stadtmagazinen hat der Autor, Ethnologe von Beruf, „Nachtschwärmer” gesucht. Im Sommer und Herbst 1995 ist er mit ihnen (drei Frauen und vier Männer) in Cafés und Bars, auf hektischen Straßen und Plätzen und in stillen Parkanlagen unterwegs gewesen. Außer dem wissenschaftlichen Ansatz geht es Bretthauer auch darum, einen ästhetischen Zugang zu finden, die Atmosphäre der Nacht in Stimmungen von Orten und zwischen Menschen wiederzugeben.

Für seine Darstellung knüpft der Autor an die Tradition der Tableaus an, feuilletonistische Städtebilder, die Ende des 18. Jahrhunderts begründet wurden und als Magazine oder in Journalen erschienen. Ihn reizten die dem „Genre innewohnende Durchlässigkeit und Offenheit für großstädtische Wahrnehmungsformen ... übersichtliche Zusammenstellung, breit ausgeführte Schilderung... Nähe zur bildlichen Darstellung”. Dem Leser wird ermöglicht, die erzählten Erfahrungen noch einmal nacherleben zu können.

In jedem Tableau treten drei Stimmen auf. In der ersten und zweiten Stimme reflektiert der Forscher eigene Empfindungen, Erinnerungen, gibt Interpretationen. Die dritte Stimme bringt den O-Ton des jeweiligen Nachtschwärmers. Die Nachtschwärmer, zwischen 22 bis 39 Jahre alt, kommen aus unterschiedlichen sozialen Schichten. Die 21jährige Verkäuferin in einem Supermarkt bekennt, daß sie nach der Arbeit fix und fertig ist und am liebsten nur noch schlafen oder höchstens fernsehen möchte. Doch sie braucht einen Ausgleich, „etwas anderes, das mir sagt, daß ich noch am Leben bin”. Nachts Menschen kennenzulernen sei anders als am Tag. Da zeige man das „Weggeh-Ich” und nicht das „Ich” des Tages. Ähnliche Erfahrungen schildert eine junge Frau, die noch nicht lange in der Großstadt lebt. Die Nacht erweise sich als idealer Zeitraum, Menschen zu beobachten und kennenzulernen. Doch das Nachtbild sei trügerisch und müsse oft am anderen Tag korrigiert werden. Ein junger Mann verdient sich seinen Lebensunterhalt, indem er in clownesker Verkleidung durch Kneipen und Restaurants im Scheunenviertel zieht und Gedichte - eigene und die anderer - verkauft. Für einen Büroangestellten ist nächtliches Ausgehen Ausbruch aus dem Alltag, wo er auf eine Rolle (Geld verdienen) festgelegt ist. Nachts sieht er einen Freiraum, anders zu sein, in Orte und Szenen zu gelangen, zu denen er sonst keinen Zugang hat. Um so größer ist der Absturz dann am nächsten Tag.

Die Fülle der Erfahrungsberichte ordnet der Autor in vier Tableaus. Im „Tableau Luxmeter” untersucht er, wie sich nächtliche Lichtverhältnisse auf die Wahrnehmungen auswirken. Die Einflüsse nächtlicher Umwelt und von Naturerlebnissen werden im „Tableau Natur” dargestellt. Ein anderes Tableau beschäftigt sich mit dem „Nachtleben” (nächtliches Ausgehen). Um Überlieferungen, Mythen, Phantasie-Wesen, die Ängste und Bedrohungen auslösen, geht es im „Tableau Phantome”.

Die Nacht verdient, erfahren zu werden, schreibt der Autor im Vorwort. Seine Monographie ist in ihrer differenzierten und ausführlichen Darstellung ein anregender Beitrag dazu.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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