Rezension von Horst Wagner


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Düster oder ermutigend?

 

John Gray: Die falsche Verheißung
Der globale Kapitalismus und seine Folgen.

Alexander Fest Verlag, Berlin 1999, 334 S.

 

Eine große Berliner Tageszeitung nannte Grays Werk ein düsteres Bild, „bei dem man sich die Kugel geben möchte”. Ich finde, es ist eine höchst interessante, aufklärerische, warnende Schrift. Düster in der Tat ist freilich die Perspektive, die John Gray, Professor an der Londoner School of Economics und früherer, inzwischen offenbar geläuterter, „Cheftheoretiker” von Premierministerin Thatcher für den unbeschränkten, allein vom Profitstreben bestimmten globalen Kapitalismus zeichnet. Als mögliche Folgen der „falschen Verheißung” einer von allen Rücksichten freien Marktwirtschaft beschreibt Gray die gesellschaftsgefährdende Zuspitzung des Gegensatzes zwischen Arm und Reich, Massenarbeitslosigkeit und globaler Umweltzerstörung. Hatte Marx einst die Alternative beschrieben „Sozialismus oder Barbarei”, so heißt sie für Gray, der jeglichen Sozialismus als endgültig gescheitert ansieht: Zähmung, Vermenschlichung des Kapitalismus oder „Zerstörung der liberalen Zivilisation”.

Dabei hätte sich sicher mancher Leser eine präzisere Beschreibung gewünscht, wie Gray sich diese „Zähmung” vorstellt. Von revolutionären Umstürzen hält er verständlicherweise nichts. Aber er scheint auch kein besonderer Freund sozialdemokratischer Reformpolitik zu sein. Am meisten setzt er auf die schließliche Einsicht der Kapitaleigner, daß ein Zerfall der Gesellschaft auch den Untergang des Profitsystems bedeuten würde, und auf eine aktivere Politik der Lenkung makroökonomischer Prozesse durch demokratische Staatswesen. Wobei er in diesem Zusammenhang wohl zu Recht feststellt: „Demokratie und freier Markt sind keine Partner, sondern Konkurrenten.” Außerdem glaubt er (exakt begründet wird es nicht), daß die durch die Globalisierung bewirkte weltweite Verbreitung moderner Technologien nicht zu einer Stärkung, sondern zur Schwächung der westlichen Vorherrschaft, zu einer „Pluralisierung” des Kapitalismus führen wird. „Was wir zunächst brauchen”, so Gray, „ist eine Reform der Weltwirtschaft, damit sich diese mit der Vielfalt von Kulturen, Regierungssystemen und Marktwirtschaften dauerhaft vereinbaren läßt.” Dabei setzt er sich mit der Behauptung von der Allgemeingültigkeit westlicher, heute vor allem USA-geprägter Menschenrechts- und Wertvorstellungen auseinander und läßt seine Sympathie für traditionelle asiatische Werte wie Toleranz, Familiensinn und Vertrauen erkennen. Wenn Grays Überlegungen sicher nicht alle überzeugen können, so sind sie doch eine wertvolle Anregung zum Weiterdenken, gerade an der Schwelle des neuen Jahrtausends.

Interessant und faktenreich ist Grays Analyse heutiger Erscheinungsformen des Kapitalismus. Er beginnt mit einer stark auf Adam Smith und Marx gestützten Beschreibung der Entwicklung des Kapitalismus in England und zeigt, daß, gleich dem Industriekapitalismus des 19. Jahrhunderts, auch der heutige, durch modernste Informationstechnologien, durch weltweite Verflechtung von Produktion und Eigentum und durch ein vorwiegend virtuelles (d.h. auf Spekulation beruhendes) Finanzsystem geprägte globale Kapitalismus zur Zerstörung herkömmlicher Industrien, von Arbeitsplätzen und Lebensformen führt. Grays Hauptkritik richtet sich dabei gegen den heutigen USA-Kapitalismus, der zu einer bisher nicht gekannten sozialen Ungleichheit und Unsicherheit geführt habe.

Für den in der Bundesrepublik bisher praktizierten „rheinischen Kapitalismus” zeigt Gray eher Sympathien, sieht aber wenig Überlebenschancen für dessen soziale Zugeständnisse. Am japanischen Kapitalismus lobt er den „ungeschriebenen Gesellschaftsvertrag, der dem größten Teil der Bevölkerung sichere Arbeitsplätze verspricht”, räumt aber ein, daß dieser Vertrag infolge der Asienkrise und der Verschärfung der Konkurrenz durch fortschreitende Globalisierung gefährdet ist.

Das nach dem Zerfall der Sowjetunion in Rußland entstandene Wirtschaftssystem nennt er einen „mafiosen Anarchokapitalismus” und führt erschreckende Fakten für die Verelendung eines Großteils der Bevölkerung an. Ohne sich mit dem Begriff „Sozialismus chinesischer Prägung” auseinanderzusetzen, sieht Gray in den Reformen im bevölkerungsreichsten Land der Erde den „Versuch ..., eine funktionierende Marktökonomie zu schaffen”, die sich weder auf sowjetische noch westliche Entwicklungsmodelle stützt, sondern „besser zu den besonderen Traditionen, Bedürfnissen und Bedingungen des Landes paßt”. (S.256, 259) Daß das gegenwärtige Regime in China ein solches Desaster, wie es sich in Rußland vollzog, bislang verhindert hat, verschaffe ihm in der Bevölkerung großen Rückhalt.

Im Schlußkapitel faßt Gray unter der Überschrift „Was tun” seine Auffassungen so zusammen: „Dringend notwendig ist also ein grundlegender Wandel der herrschenden Wirtschaftsphilosophie. Die Freiheit des Marktgeschehens ist kein Selbstzweck, sondern ein Mittel, ein Entwurf, von Menschen für menschliche Ziele ersonnen. Die Märkte sind dazu da, dem Menschen zu dienen, nicht umgekehrt.” Eine These, die sicher alle Unterstützung verdient, für deren Realisierung er aber bisher „nur wenige Zeichen” sieht. Trotzdem ist Grays seit seinem Erscheinen 1998 in England viel beachtetes Buch eher eine ermutigende als eine düstere Schrift.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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