Rezension von Gisela Reller


 

1057 Jahre russische Geschichte
Erich Donnert: Rußland (860-1917)
Von den Anfängen bis zum Ende der Zarenzeit.
Herausgegeben von Horst Glassl und Eckehard Völkl.
Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 1998, 303 S.
 

Wie viele Bücher mögen schon über Rußlands Geschichte erschienen sein? Und nun wieder eines - diesmal in der Reihe „Ost- und Südosteuropa - Geschichte der Länder und Völker”. Der Autor schildert darin die ereignisreiche politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung des Kiewer Reiches, des Moskauer Großfürsten- und Zarentums und des Petersburger Imperiums, das mit die Ermordung des letzten Romanow-Zaren Nikolaus II. und seiner Familie 1918 ein tragisches Ende fand. Erich Donnert ist emeritierter Professor für Osteuropäische Geschichte, lehrte über drei Jahrzehnte in Jena, Leipzig und Halle. Angesichts der sich in Ost- und Ostmitteleuropa vollziehenden Veränderungen, so Donnert in seinem Vorwort, sähen sich die Historiker veranlaßt, unter Heranziehung bislang unzugänglichen Quellenmaterials die Geschichte des russischen Großreichs neu zu studieren und darzustellen. Donnert hat in sein Buch neue Sichtweisen eingebracht, zum Beispiel berücksichtigt er besonders die Dezentralisierungsvorgänge und Föderationsbestrebungen, denn „bei der Auseinandersetzung um die Probleme des Föderalismus und des Nationalismus nahm die Frage nach dem Wesen des Staates ... einen zentralen Platz ein”. Und Donnert vermeidet eine ausschließlich russozentrische Darstellung, wobei es ihm vorrangig um die Einordnung der ukrainischen und belorussischen Geschichte in die Geschichte Rußlands geht. Schon diese beiden Aspekte machen das x-te Buch über die Geschichte Rußlands lesenswert. Aber der Autor bietet bei zahlreichen Details außerdem seine vom Gängigen abweichenden Interpretationen an. So zweifelt er an der Berufung der Waräger im Jahre 862 zwecks Schlichtung des Streits zwischen finnischen und ostslawischen Stämmen und nennt dies eine spätere Umdeutung der wirklichen Ereignisse. Iwan der Schreckliche hat, so Donnert, seinen Sohn 1581 nicht kaltblütig ermordet, sondern ihn im Jähzorn am Kopf verletzt, woran dieser starb, ein ungewolltes Unglück also. In allen Geschichtsdarstellungen wird Boris Godunow der Mord an dem zehnjährigen Dmitri, Iwans IV. Sohn, im Jahre 1591 in die Schuhe geschoben, doch Donnert weist auf die völlig dagegen sprechenden Untersuchungsergebnisse hin. Nicht die Halbschwester Sofja, die für ihren minderjährigen Halbbruder Peter die Regentschaft übernommen hatte, sondern die eigene Mutter des späteren Peter des Großen legte ihm vor seiner Machtübernahme Steine in den Weg. Dem stets nur reaktionär und grausam dargestellten Innenminister Stolypin (1862-1911) wird eine glimpflichere Bewertung zuteil.

Der Verlag strebt bei seiner Reihe (bisher erschienen sind je ein Band über Polen, Griechenland, Albanien, Rumänien) einen weiten Leserkreis an, entsprechend ist Donnert bemüht, in anschaulicher Sprache und gut verständlich zu schreiben. In seinen Darstellungen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts gelingt ihm das auch (obwohl eine ganze Menge Fremdwörter zu vermeiden gewesen wären), dann aber überschlagen sich die Ereignisse, und die vielen Jahreszahlen, Namen, Begriffe kommen meist nur noch nackt und bloß daher. Übrigens: Das kaukasische Volk der Karbardiner (S. 48) hat ein „r” zuviel, „das heutige Sagorsk” (S. 65) heißt schon seit Jahren Sergijew Possad, und Belorußland (S. 289) hat sich vor Jahren schon in Belarus umbenannt.

Der Text wird ergänzt durch Abbildungen, Textillustrationen und Karten. Bei den Abbildungen ist statt des Moskauer Kremls die Basiliuskathedrale zu sehen, und warum ausgerechnet ein „Kirgise zu Pferd” gezeigt wird, bleibt schleierhaft; die beiden Textillustrationen (Tschingis Khans Enkel Batu und eine Karikatur auf das Abschneiden der seit alters üblichen Bärte bei Würdenträgern) sind ganz und gar willkürlich ausgewählt; die Karten wurden anderen Werke entnommen, so daß die Schreibweisen der Zaren und Orte nicht mit der im Text übereinstimmen. Ärgerlich. Im Anhang finden wir Kurzbiographien, Hinweise auf historisch interessante Stätten, eine Zeittafel, ein Register. Die Biographien sind teilweise in ihrer Magerkeit geradezu lächerlich (z. B. Puschkin, Rasin, Stroganow); die Hinweise auf historisch interessante Stätten dagegen ergänzen den Text auf anregende Weise. Bei der Zeittafel ostslawischer und russischer Herrscher ist abrupt ab Katharina I. bis Nikolaus II. nicht mehr von Zaren und Zarinnen die Rede, sondern von Kaisern und Kaiserinnen, im Donnertschen Text geht es bei den einzelnen Herrschern munter durcheinander zwischen Zar und Kaiser; beim Register sind unter der Überschrift Personen nur Orte angegeben. Fazit: Redaktionell wurde bei diesem Buch geschludert. Gelungen ist die Aufmachung des Buches (Französische Broschur) mit dem farbenprächtigen russischen Reichswappen als Umschlagmotiv von Richard Stölzl. Schade, daß dieses Wappen mit seinen vielen interessanten Details nirgendwo erläutert wird.

Der Verlag hat in seiner Reihe einen Anschlußband in Vorbereitung: „Rußland. Von 1918 bis in die Gegenwart.”
 


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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