Rezension von Manfred Lemaire


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Griff in den Süden

 

Tom Wolfe: Ein ganzer Kerl
Roman.
Aus dem Amerikanischen von Benjamin Schwarz.

Kindler Verlag, München 1999, 920 S.

 

Man braucht nicht lange in diesem Buch zu lesen, um an William Faulkners Griff in den Staub (Intruder in the Dust, New York 1948) erinnert zu werden. Gewiß, zwei ganz verschiedene Romane, unterschiedlich in Zeit und Ort und Personnage, aber doch so ähnlich: Der schwarze und weiße und heiße Süden der Vereinigten Staaten von Nordamerika mit seinen sterblichen Menschen und seiner unsterblichen Geschichte ist das Thema, und wer davon berichtet, kommt beim Erzählen rasch in die Nähe großer Vorbilder, auch wenn die Handlung ganz anders angelegt ist, die Leute und Konflikte ganz anders gezeichnet werden. Es muß wohl dieser explosive Süden sein, der einen Schriftsteller zu solcher Farbigkeit begeistert, ihn solche besonderen Charaktere gestalten läßt und ihn zwingt, sich ohne Ausflüchte dem Rassenproblem mit seinen vielen Facetten zu stellen, generelle Sozialkritik inklusive. All dies hat Tom Wolfe versucht, und es ist daraus ein großartiger Roman geworden, ein Griff in den Süden, hinein ins volle Menschenleben.

Wolfes erster und gleich sehr erfolgreicher Roman, Fegefeuer der Eitelkeiten (1988 bei Kindler), spielt in New York. Nun werden wir auf einen ganz anderen Schauplatz geführt. Der Autor, Jahrgang 1931, hat seine Handlung noch weiter südlich angesiedelt, als sein Geburtsland Virginia liegt. Sie spielt im „Plantagenland Georgia” (Wolfe) mit der vitalen Hauptstadt Atlanta, Ort der Olympischen Sommerspiele 1996, Stadt des schwarzen Helden und Märtyrers Martin Luther King, Großraum mit reichlich drei Millionen Einwohnern. Georgia war ein Bollwerk der Konföderierten, wurde erst 1788 als letzter Staat Mitglied der Union. Es hat (obwohl fast halb so groß wie die heutige Bundesrepublik Deutschland) insgesamt nur reichlich sieben Millionen Einwohner, davon knapp ein Drittel Farbige, aber in Atlanta sind es mindestens zwei Drittel Black People.

Vor diesem im Roman verschiedentlich angedeuteten und in seiner Gefährlichkeit gezeigten Hintergrund entwickelt der Autor eine Handlung, die sich auf Atlanta konzentriert und in der wir unterschiedlichsten Figuren begegnen, die typisch für Atlanta gemeint sein dürfen: einem alt gewordenen Immobilienhai, dessen Bauten das Stadtbild mitbestimmen; einem jungen Arbeitslosen, vom Hai zwecks Kostenreduzierung gefeuert, der mangels Geld in lebensbedrohliche Schwierigkeiten kommt; dem schwarzen Bürgermeister der Stadt, der mit allen Tricks um sozialen Frieden und Rassenfrieden und vor allem um seine Wiederwahl kämpft; einem windigen weißen Banker, der sich die gigantische Pleite des Immobilienhais zunutze machen möchte; einem geschniegelten „schwarzen” Rechtsanwalt, der noch mehr nach Milchkaffee aussieht als der Bürgermeister; der dreißigjährigen zweiten Frau des Immobilienmanns und dessen über fünfzigjährigen Exfrau - Hauptpersonen und dazu viele Randfiguren, sämtlich meisterhaft skizziert, manche auch genüßlich modelliert. Wolfe hat einen genauen und keineswegs geschönten Blick für die Spezies Mensch in allen ihren Schattierungen, Haut- und Charakterfarben.

Mittelpunkt des Romans ist der ganze Kerl (im 1998 erschienenen Original: A Man in Full), eben jener Immobilienjongleur, ein Mann wie ein Stier, aber doch schon sechzig, also auch körperlich nicht unverwundbar, immerhin noch mit viel Kraft, voller Schläue, ungebildet, ungehobelt, protzig, verschwenderisch und doch dem einfachen Leben auf seinem riesigen Landgut verbunden. Seine zwei Frauen haben ihn um viele Millionen Dollar erleichtert, bedauerlich, weil er wegen eines unrentablen Prestigeobjekts, eines Wolkenkratzers, vor dem finanziellen Ruin steht, bedrängt von der Bank, die ihm aus lauter Profitgier zuviel Kredit gegeben hat wie weiland die Deutsche Bank dem Pleitier Schneider.

Allein schon dieser Mann - sein Leben, sein Umgang, seine Verstrickung in die eigenen Fallstricke - ist eine glänzende Charakterstudie, ein Roman im Roman. Tom Wolfe spannt den Bogen von der scheinbaren Idylle à la Onkel Toms Hütte auf dem ebenso nutzlosen wie kostspieligen Landgut bis zur Eröffnung einer zweifelhaften Kunstausstellung in Atlanta Downtown, zu der man einen Tisch mit zehn Plätzen für zusammen zwanzigtausend Dollar nehmen muß, um dabeisein zu können, um gesehen zu werden und sonst gar nichts.

Ebenso exzellent sind die anderen Figuren angelegt und zum Greifen gestaltet, speziell der junge Arbeitslose, Familienvater noch dazu, der Pech über Pech hat, in einem Alptraum von Gefängnis landet, nach einem Erdbeben aus dieser Hölle flieht, schließlich bei dem Immobilien-Pleitier als Bediensteter unterkommt, bei diesem ganzen Kerl Charlie Croker, der wegen eines defekten Kniegelenks hinfällig geworden ist.

Hier nun, in der sich anbahnenden menschlichen Beziehung dieser so ungleichen Männer, zeigt sich ein Schwachpunkt des Romans: Der kleine dienstbare Geist macht den großen verwundeten Baulöwen mit den Lehren der altgriechischen Stoiker vertraut, und siehe da, der Baulöwe bekehrt sich nicht nur zu Stoa, sondern beginnt nach seiner Milliardenpleite auch ein ganz neues (und unerträgliches) Leben als Wanderprediger, verkündend die Lehren des Epiktet und anderer Stoiker, zurechtgebastelt für die Bedürfnisse geplagter Amerikaner. Nach diesem im Buch nur gesprächsweise angedeuteten glücklichen Ende schließt die Geschichte vom ganzen Kerl und mit ihr der ganze Roman, und dieses Ende wirkt doch etwas angeklebt. Der Vollständigkeit halber sei ferner kritisch erwähnt, daß der üppige Umfang des Buches zum Teil auf einige Überlängen zurückzuführen ist, ausgewalzte Passagen, die durch ein paar Striche hätten gestrafft werden sollen. Wolfes Erzählerlust ist einige Male mit ihm durchgegangen. Ein guter Lektor sollte dergleichen zügeln.

Beide Einwände aber können die Qualität dieses Buches nicht mindern, das den Leser mit einer Fülle glänzend gestalteter Szenen in Atem hält. Wolfe versteht es in besonderer Weise, in diesen Szenen die Spannung bis an die Grenze des Erträglichen zu steigern, ohne sich etwa reißerischer Elemente des Kriminalromans oder sexbetonter Literatur zu bedienen. Die einzige Sexszene des Buches ist eine atemberaubend geschilderte Pferdehochzeit coram publico auf dem Landgut des Baulöwen, der seinen Drei-Millionen-Dollar-Zuchthengst und eine Zuchtstute agieren läßt, um seine Wochenendgäste zu beeindrucken und wohl auch auf Gutsherrenart zu schockieren. Besonders genannt werden muß der Übersetzer Benjamin Schwarz. Vor allem seine Kunst, den Südstaatenslang in vielen schwarzen und weißen Spielarten kongenial verständlich zu machen, einzelne Worte oder ganze Sätze durch eine hinzugefügte unauffällige Definition zu verdeutlichen, trägt erheblich zum Lesevergnügen wie zum Begreifen von Feinheiten des Textes bei. Was da in Atlanta und auf dem Lande gesprochen wird, hat mit Washingtoner Amerikanisch wenig und mit Oxford-Englisch kaum noch etwas zu tun. Auch dies gehört zum Griff ins pralle Leben der Südstaaten.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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